122.Um mir den Reiz der neuen Besch"aftigung ungebrochen zu bewahren, teilte ich mir von nun ab jeden Tag genau ein: zwei Partien morgens, zwei Partien nachmittags, abends dann noch eine rasche Wiederholung. Damit war mein Tag, der sich sonst wie Gallert formlos dehnte, ausgef"ullt, ich war besch"aftigt, ohne mich zu erm"uden, denn das Schachspiel besitzt den wunderbaren Vorzug, durch Bannung der geistigen Energien auf ein engbegrenztes Feld selbst bei anstrengendster Denkleistung das Gehirn nicht zu erschlaffen, sondern eher seine Agilit"at und Spannkraft zu sch"arfen. Allm"ahlich begann bei dem zuerst bloss mechanischen Nachspielen der Meisterpartien ein k"unstlerisches, ein lusthaftes Verst"andnis in mir zu erwachen. Ich lernte die Feinheiten, die T"ucken und Sch"arfen in Angriff und Verteidigung verstehen, ich erfasste die Technik des Vorausdenkens, Kombinierens, Ripostierens und erkannte bald die pers"onliche Note jedes einzelnen Schachmeisters in seiner individuellen F"uhrung so unfehlbar, wie man Verse eines Dichters schon aus wenigen Zeilen feststellt; was als bloss zeitf"ullende Besch"aftigung begonnen, wurde Genuss, und die Gestalten der grossen Schachstrategen, wie Aljechin, Lasker, Bogoljubow, Tartakower, traten als geliebte Kameraden in meine Einsamkeit.