Der Anruf bei Lucan und sein seltsames Verhalten am anderen Ende der Leitung hatten sie den ganzen Tag beunruhigt. Das machte ihr noch immer zu schaffen, als sie am Abend mit Megan aus dem Yogakurs kam.
„Er klang einfach so merkwürdig am Telefon. Ich weiß nicht, ob er extreme körperliche Schmerzen hatte oder ob er mir verkrampft mitzuteilen versuchte, dass er mich nicht mehr sehen will.“
Megan seufzte und winkte ab. „Wahrscheinlich interpretierst du zu viel hinein. Wenn du es wirklich wissen willst, warum besuchst du ihn nicht auf der Polizeiwache?“
„Keine so gute Idee. Ich meine, was soll ich sagen?“
„Du sagst: ,Hi, Süßer. Du klangst heute Nachmittag so fertig, dass ich dachte, du könntest eine kleine Aufmunterung gebrauchen, und hier bin ich.‘ Vielleicht bringst du ihm sicherheitshalber Kaffee und einen Donut mit.“
„Ich weiß nicht …“
„Gabby, du hast selbst gesagt, dass der Typ extrem süß und fürsorglich ist, wenn er bei dir ist. Was du mir über dein heutiges Gespräch mit ihm erzählt hast, klingt, als wäre er sehr besorgt um dich. Nämlich so besorgt, dass er einen seiner Kumpels zu dir schickt, weil er arbeiten muss und selbst nicht da sein kann.“
„Er hat betont, wie gefährlich es an der Oberfläche sei – und was meinst du, was
„Dann frag ihn. Komm schon, Gabrielle. Du solltest im Zweifelsfall zu seinen Gunsten entscheiden.“
Gabrielle blickte an sich herab, auf ihre schwarze Yogahose und die Kapuzenjacke mit Reißverschluss; dann tastete sie nach ihrem Pferdeschwanz, um festzustellen, wie schlaff er während der Dreiviertelstunde Dehnübungen geworden war. „Ich sollte erst nach Hause fahren und wenigstens schnell duschen und mich umziehen –“
„Wow! Ich meine, wirklich, wow.“ Megans Augen weiteten sich und leuchteten vor Belustigung. „Du hast Angst hinzugehen, oder? Oh, eigentlich möchtest du schon, aber wahrscheinlich hast du eine Million Ausreden parat, warum es nicht geht. Gib’s zu, du magst diesen Kerl wirklich.“
Sie hätte es einfach nicht abstreiten können, selbst wenn ihr spontanes Lächeln sie nicht verraten hätte. Gabrielles Augen begegneten dem wissenden Blick ihrer Freundin, und sie zuckte die Achseln. „Ja, stimmt. Ich mag ihn. Und zwar sehr.“
„Und worauf wartest du dann? Die Wache ist drei Blocks entfernt, und du siehst so wunderschön aus wie immer. Außerdem ist es ja nicht so, als hätte er dich nicht schon ein bisschen verschwitzt gesehen. Möglicherweise bevorzugt er diesen Look ja an dir.“
Gabrielle lachte mit Megan, aber insgeheim zog sich ihr der Magen zusammen. Sie wollte Lucan wirklich sehen – tatsächlich wollte sie am liebsten keine Minute länger darauf warten –, aber was, wenn er versucht hatte, sie sanft abzuservieren, als sie am Nachmittag telefonierten? Wie lächerlich würde sie aussehen, wenn sie dann in die Polizeiwache gedackelt kam, als glaubte sie, sie wäre seine Freundin? Sie würde sich wie eine Idiotin vorkommen.
Aber auch nicht schlimmer, als wenn sie diese Neuigkeit aus zweiter Hand von seinem Freund Gideon erfuhr, der auf Mitleidsmission zu ihr geschickt wurde.
„Okay. Ich mach’s.“
„Gut so!“ Megan hängte sich den Riemen ihrer zusammengerollten Yogamatte über die Schulter und strahlte. „Ich treffe mich zu Hause mit Ray nach seiner Schicht, aber du rufst mich morgen früh als Allererstes an und erzählst mir, wie es gelaufen ist, ja?“
„Alles klar. Sag Ray viele Grüße von mir.“
Als Megan davoneilte, um den Zug um viertel nach neun zu erreichen, machte sich Gabrielle zu Fuß zur Polizeiwache auf. Unterwegs dachte sie an Megans Rat und machte kurz Halt, um ein Gebäckstück und einen Becher Kaffee zu besorgen – stark und schwarz, da sie in Lucan nicht den Typ sah, der seinen Kaffee wie ein Weichling mit Sahne oder Zucker oder gar koffeinfrei trank.
Mit diesen Gaben in der Hand erreichte Gabrielle die Eingangstür der Polizeiwache. Sie atmete tief durch und kratzte ihren Mut zusammen, dann trat sie über die Schwelle und schlenderte lässig in das Gebäude hinein.
Seine übelsten Wunden begannen zu heilen, als der Abend anbrach. Neue Haut wuchs fest und gesund unter der blätternden alten Pelle, mit der er seine äußeren Blessuren abstreifen konnte. Seine Augen reagierten noch überaus sensibel, selbst auf künstliches Licht, aber in der kühlen Dunkelheit an der Oberfläche registrierten sie keinen Schmerz. Das war gut, denn er musste so bald wie möglich nach draußen, um den brennenden Durst seines Körpers zu löschen.
Dante sah ihn scharf an, als die beiden das Quartier verließen und sich anschickten, einzeln ihren nächtlichen Aufklärungseinsatz anzutreten und danach höllische Vergeltung an den Rogues zu üben.
Aber zuerst musste Lucan unbedingt Nahrung aufnehmen.