Die Abendluft fühlte sich auf ihren geröteten Wangen kalt an und beruhigte sie ein wenig. Aber in ihrem Kopf drehte sich alles. Ihr Herz schlug immer noch hart vor Verwirrung und Unglauben.
War die ganze Welt um sie herum verrückt geworden? Was zum Teufel war hier los?
Lucan hatte ihr nur vorgelogen, Polizist zu sein, das war ziemlich klar. Aber wie viel von dem, was er ihr gesagt hatte – Himmel, wie viel von dem, was sie zusammen getan hatten – gehörte zu diesem Täuschungsmanöver?
Und warum?
Gabrielle blieb am Fuß der Betonstufen vor der Wache stehen und holte tief Luft. Ganz langsam ließ sie sie wieder entweichen. Dann erst merkte sie, dass sie ihr Handy noch immer umklammert hielt.
„Scheiße.“
Sie musste es wissen.
Diese seltsame Achterbahnfahrt musste augenblicklich aufhören.
Mit der Wahlwiederholungstaste rief sie Lucans Nummer auf und drückte den Knopf, um die Verbindung herzustellen. Sie wartete, unsicher, was sie sagen sollte.
Es klingelte sechsmal.
Siebenmal.
Achtmal …
Lucan zog das Mobiltelefon aus der Tasche seiner Lederjacke, wobei ihm ein kräftiger Fluch über die Lippen drang.
Gabrielle … schon wieder.
Sie hatte ihn vorhin schon angerufen. Aber da konnte er nicht rangehen, denn er jagte gerade einen Dealer, den er vor einer zwielichtigen Bar erspäht hatte, als der Mann mieses Crack an eine minderjährige Prostituierte verkaufte. Lucan hatte seine Beute mental in eine ruhige Seitengasse dirigiert und stand kurz davor anzugreifen, als Gabrielles erster nächtlicher Anruf einen Lärm auslöste, als hätte er eine Autoalarmanlage in der Tasche. Rasch hatte er das Gerät stumm geschaltet und sich selbst innerlich runtergeputzt für die unverhältnismäßige Blödheit, das verdammte Ding allen Ernstes auf die Jagd mitzunehmen.
Sein Hunger und seine Verletzungen hatten ihn so leichtsinnig gemacht. Aber der plötzliche Lärm in der dunklen Gasse hatte sich schließlich als Vorteil für ihn herausgestellt.
Er war nicht in Bestform, und der durchtriebene Dealer ahnte die Gefahr, obwohl Lucan sich in den Schatten hielt, um seiner Beute ungesehen nachzustellen. Der Kerl war schreckhaft und nervös. Er zog mitten in der engen Gasse eine Handfeuerwaffe, und auch wenn Schusswunden für Leute von Lucans Art selten tödlich waren – wenn es nicht gerade um einen Kopfschuss aus nächster Nähe ging –, war der Vampir sich nicht sicher, ob sein angeschlagener, gerade erst genesender Körper jetzt schon die Wucht einer weiteren Verletzung aushalten konnte.
Ganz zu schweigen davon, dass es ihn wahnsinnig wütend gemacht hätte, und er hatte schon extrem schlechte Laune.
Beim Klingeln des Handys wirbelte der Dealer erschrocken von links nach rechts und dann wieder nach links, um die Geräuschquelle hinter sich zu orten, und da griff Lucan ihn an. Im Nu hatte er den Kerl zu Boden geworfen. Ehe die Angst genügend Atem in die Lungen des Mannes trieb, dass er schreien konnte, versenkte Lucan seine Fangzähne in die prall hervortretende Ader seitlich am Hals.
Blut schoss über seine Zunge, ekelhaftes Blut, verunreinigt und verdorben von Drogen und Krankheit. Dennoch schluckte er es herunter, einen Schluck nach dem anderen, wobei er seine sich windende, keuchende Beute ohne Gnade gepackt hielt. Er würde den Kerl töten, und es machte ihm nicht das Geringste aus. Von Bedeutung war jetzt nur, dass er seinen Hunger stillte. Den Schmerz seines heilenden Körpers linderte.
Lucan langte zu und trank sich satt.
Mehr als satt.
Er hatte den Dealer fast völlig leer getrunken, aber sein Heißhunger ließ einfach nicht nach. Es wäre jedoch blanker Leichtsinn, noch mehr Nahrung aufzunehmen, für heute Nacht war es genug. Er musste diese Stärkung erst mal wirken lassen. Wenn er seiner Gier nachgab, riskierte er, die Kontrolle zu verlieren und in Richtung Blutgier getrieben zu werden.
Lucan starrte erbost auf das Gerät, das in seiner Hand summte, und wusste, dass er den Anruf einfach nicht entgegennehmen sollte.
Aber das verdammte Handy summte hartnäckig immer weiter, und in der Sekunde, bevor es verstummen würde, nahm er ab. Zuerst schwieg er und lauschte, wie der weiche Klang von Gabrielles Atem durch den Hörer drang. Dann kam ihre Stimme, mit leichtem Zittern, aber doch kräftig, obwohl sie offenkundig ziemlich aufgeregt war.
„Du hast mich angelogen“, sagte sie als Begrüßung. „Wie lange schon, Lucan? Und wobei – bei allem?“
Lucan warf einen abschätzigen Blick auf den leblosen Körper seiner Beute. Er ging in die Hocke und durchsuchte den Dreckskerl rasch. Er fand ein mit einem Gummiband zusammengehaltenes Bündel Hundertdollarnoten, das er den Straßengeiern hinterließ, die sich darum schlagen würden. Die Drogen – ein beachtlicher Vorrat an Crack und Heroin – würden ein Bad in einem der Abwässerkanäle der Stadt nehmen.
„Wo bist du?“, bellte er barsch ins Handy und dachte nicht mehr an das Raubtier, das er auf seiner Jagd eliminiert hatte. „Wo ist Gideon?“
„Du versuchst ja nicht mal, es abzustreiten! Warum machst du so was?“
„Hol ihn ans Telefon, Gabrielle.“