„O mein Gott.“ Gabrielle starrte das Bild von der Nervenheilanstalt an, und ihre Finger zitterten leicht, als sie es wieder auf den Tisch legte. „Als ich diese Bilder neulich morgens gemacht habe, hat mich ein Mann erwischt. Er hat mich vom Grundstück gescheucht. Denkst du, er war –“
Lucan schüttelte den Kopf. „Es war ein Lakai, kein Vampir, wenn du ihn nach Tagesanbruch gesehen hast. Sonnenlicht ist Gift für uns. Dieser Teil der alten Legenden entspricht der Wahrheit. Unsere Haut brennt schnell, so wie das eure täte, wenn ihr sie mitten am Tag unter ein starkes Vergrößerungsglas halten würdet.“
„Ach, darum sehe ich dich immer nur nachts“, murmelte sie, als sie im Geiste Lucans Besuche durchging, angefangen mit dem ersten Mal, als er sein Täuschungsmanöver begann. „Wie konnte ich nur so blind sein, wo doch alle Hinweise direkt vor meiner Nase waren?“
„Vielleicht wolltest du sie nicht sehen, aber du wusstest es, Gabrielle. Du hast geahnt, dass mehr hinter dem Mord steckte, den du gesehen hast, als dein menschlicher Erfahrungshorizont erklären kann. Fast hättest du das auch zu mir gesagt, damals, als wir uns kennenlernten. Auf irgendeiner Ebene deines Bewusstseins hast du gemerkt, dass es ein Vampirangriff war.“
Sie hatte es wirklich gewusst, damals schon. Aber sie hätte nie vermutet, dass Lucan dazugehörte. Ein Teil von ihr wollte sich noch immer nicht damit abfinden.
„Wie kann das sein?“, stöhnte Gabrielle und ließ sich auf den nächstbesten Stuhl fallen. Sie starrte auf die Bilder, die vor ihr auf dem Tisch lagen, dann sah sie wieder in Lucans ernstes Gesicht und kämpfte mit den Tränen, die ihr in den Augen brannten. Ein Kloß der verzweifelten Verleugnung steckte in ihrer Kehle. „Das kann nicht real sein. Gott, bitte sag mir, dass das alles nicht wirklich passiert.“
Er hatte ihr viel zugemutet, womit sie sich auseinandersetzen musste – nicht alles, aber mehr als genug für eine Nacht.
Lucan musste Gabrielle Anerkennung zollen. Bis auf ein paar wenige unvernünftige Anwandlungen wie das mit dem Knoblauch und dem Weihwasser hatte sie einen erstaunlich kühlen Kopf bewahrt. Ohne Frage war das Gespräch für sie schwer zu verdauen. Vampire, die Ankunft von Aliens in uralter Zeit, der aufziehende Krieg mit den Rogues, die nebenbei bemerkt jetzt auch hinter ihr her waren.
Sie hatte all das mit einer Chuzpe aufgenommen, die den meisten menschlichen Männern abging.
Lucan sah zu, wie sie sich bemühte, die Informationen zu verarbeiten. Sie saß am Tisch, den Kopf in die Hände gestützt, und jetzt liefen ihr erste Tränen über die Wangen. Er wünschte, es gäbe eine Möglichkeit, es ihr leichter zu machen. Aber es gab keine. Und es würde ohne Frage noch härter für sie werden, wenn sie erst die ganze Wahrheit über das kannte, was vor ihr lag.
Für ihre eigene Sicherheit und die des Stammes würde sie ihre Wohnung aufgeben müssen, ihren Freundeskreis, ihren Beruf. Sie würde alles hinter sich lassen müssen, was bisher ihr Leben ausgemacht hatte.
Und zwar noch heute Nacht.
„Wenn du noch mehr solche Fotos hast, muss ich sie sehen, Gabrielle.“
Sie nickte und hob den Kopf. „Ich habe alles auf meinem Computer gespeichert“, erklärte sie und strich sich das Haar aus dem Gesicht.
„Was ist mit denen in der Dunkelkammer?“
„Die sind ebenfalls gespeichert, wie auch jedes Bild, das ich über die Galerie verkauft habe.“
„Gut.“ Das Stichwort Bilderverkauf löste in Lucans Gedächtnis einen Alarm aus. „Als ich neulich hier war, hast du erwähnt, dass du eine ganze Serie an jemanden verkauft hast. Wer war das?“
„Ich weiß es nicht. Es war ein anonymer Kauf. Der Käufer hat eine private Ausstellung in einer gemieteten Penthousesuite in der Innenstadt arrangiert. Sie haben sich ein paar Bilder angesehen und dann für die ganze Serie Bargeld hingeblättert.“
Er fluchte, und über Gabrielles gequälte Miene breitete sich echtes Entsetzen.
„O mein Gott. Denkst du, es waren Rogues, die sie gekauft haben?“
Was Lucan dachte, war: Wenn er der derzeitige Anführer der Rogues wäre, hätte er größtes Interesse daran, sich eine Waffe anzueignen, mit der man die Aufenthaltsorte seiner Gegner ins Bild bekam. Ganz zu schweigen davon, dass man verhindern musste, dass der Feind besagte Waffe in die Finger bekam und gegen einen richtete.
Gabrielle in den Händen der Rogues würde ihnen einen gewaltigen Vorteil verschaffen, und zwar aus verschiedenen Gründen. Und hatten sie sie erst in ihrer Gewalt, würde es nicht lange dauern, bis sie ihr Stammesgefährtinnenmal entdeckten. Sie würden sie missbrauchen wie eine Zuchtstute. Sie würden sie zwingen, ihr Blut zu trinken und ihren Nachwuchs zu gebären, bis ihr Körper versagte und starb. Das konnte Jahre dauern, Jahrzehnte, Jahrhunderte.
„Lucan, mein bester Freund hat die Fotos dahin gebracht. Wenn ihm dabei etwas zugestoßen wäre, müsste ich mich aufhängen, Jamie ist da reinspaziert und hatte nicht die leiseste Ahnung von der Gefahr, in der er sich befand –“
„Sei froh, denn das ist wahrscheinlich der Grund, dass er lebendig wieder herausgekommen ist.“