Tess bückte sich, um die Intarsien genauer anzusehen. Sie war so in die Betrachtung der Zeichen versunken, dass sie Harvard nicht bemerkte, bis der Terrier an ihr vorbeischlüpfte und den Korridor entlangtrottete.
„Harvard, komm zurück!“, rief sie ihm nach, aber der Hund lief weiter und verschwand um die nächste Kurve des gewundenen Flures.
Verflucht.
Tess stand auf, warf einen Blick auf den leeren Flur und folgte dem Hund. Die Jagd führte sie ein langes Stück Flur hinunter, dann das nächste. Jedes Mal, wenn sie den streunenden Terrier fast erwischt hatte, entwischte er ihrem Griff und trabte weiter durch das endlose Netz aus Korridoren, als ob sie ein Spiel spielten.
„Harvard, du kleiner Gangster! Stopp jetzt!“, flüsterte sie scharf, aber leider ergebnislos.
Sie wurde jetzt ungeduldig, auch befielen sie Zweifel, ob sie sich hier allein herumtreiben sollte. Obwohl sie sie nicht sehen konnte, war sie sicher, dass hinter den undurchsichtigen Glaskugeln, die alle paar Schritte an der Wand montiert waren, Sicherheitskameras jede ihrer Bewegungen registrierten.
Es gab nirgends Hinweise, die etwas über den jeweiligen Standort verrieten oder wohin all die labyrinthischen Gänge führen mochten. Wo immer das war, was Dante sein Zuhause nannte, es war ausgerüstet wie eine Hightech-Regierungszentrale. Das wiederum machte seine haarsträubenden Behauptungen über einen Untergrundkrieg und die Existenz gefährlicher Nachtgeschöpfe nur glaubwürdiger.
Tess folgte dem Hund um eine scharfe Rechtskurve, die in einen anderen Flügel des Hauptquartiers zu führen schien. Endlich wurde Harvards weitere Flucht vereitelt. Ein Paar Schwingtüren versperrte ihm am Ende der Halle den Weg. Ihre kleinen quadratischen Fenster auf Augenhöhe hatten Milchglasscheiben, die keinen Einblick gewährten.
Tess näherte sich vorsichtig. Sie wollte weder den Hund erneut aus ihrer Reichweite scheuchen noch wusste sie, was sich auf der anderen Seite dieser Türen befand. Es war still hier. Nichts außer endlosem weißen Marmor, wo immer sie auch hinsah. In der Luft lag ein Hauch von Desinfektionsgeruch. Irgendwo in der Nähe nahmen ihre Ohren ein schwaches elektronisches Piepsen wahr, wie von medizinischem Gerät, sowie einen anderen rhythmisch-metallischen Klang, den sie nicht einordnen konnte.
War dies so eine Art Krankenstation? Es fühlte sich alles steril genug an, aber es gab keinerlei Lebenszeichen von Patienten, kein herumhuschendes Personal. Hier war überhaupt niemand, soweit sie das sagen konnte.
„Komm her, du kleines Biest“, knurrte sie und bückte sich direkt vor der Doppeltür, um den Hund hochzunehmen.
Harvard mit einem Arm an die Brust gepresst, drückte Tess einen der Türflügel einen Spaltbreit auf und linste neugierig hindurch. Noch ein Korridor. Gedämpftes Licht erzeugte ein sanftes Halbdunkel. Sie erkannte eine Reihe geschlossener Türen auf jeder Seite des Gangs. Langsam schlüpfte sie durch die Schwingtür und wagte sich ein paar Schritte hinein.
Sofort entdeckte sie die Quelle des Piepsens: Eine Konsole digitaler Anzeigetafeln war zu ihrer Linken an die Wand montiert. Das Arrangement aus Kontrolllämpchen war dunkel bis auf eine Handvoll in einem Gitter auf der unteren Seite des Schirms. Das schien so eine Art EKG-Monitor zu sein, auch wenn sie noch nie etwas Vergleichbares gesehen hatte. Aus dem hintersten Raum am Ende des Flures erklang ein sich beständig wiederholendes Rasseln und Wummern wie von etwas Schwerem.
„Hallo?“, rief Tess in die Leere. „Ist hier jemand?“
Sobald die Worte ihren Mund verließen, verstummten alle anderen Geräusche, sogar das Piepsen vom Monitor. Sie blickte auf die Tafel, und im selben Moment erloschen die Lichter. Als hätte jemand die Verbindung unterbrochen, die zum Inneren des hinteren Raumes bestand.
Ein unbehagliches Gefühl kroch ihr das Rückgrat hinauf. Harvard begann sich in ihrem Arm zu winden und zu jaulen. Er zappelte sich frei, sprang zu Boden und rannte zurück in den Flur. Tess konnte den Schrecken, der sie erfasst hatte, nicht benennen, aber sie konnte hier auch nicht weiter herumstehen und einen Namen dafür suchen.
Sie machte kehrt und marschierte zu den Schwingtüren zurück. Im Gehen wandte sie den Kopf, um zu sehen, ob sich hinter ihr etwas rührte. Da spürte sie eine plötzliche Temperaturveränderung – einen kühlen Lufthauch auf ihrer Haut, der ihr den Nacken hinaufzog.
„Scheiße“, flüsterte sie, jetzt mehr als nur nervös.
Sie streckte die Hand aus, um die Tür aufzustoßen, und zuckte zurück, als ihre Handfläche etwas Warmes, Unbewegliches berührte. Sie fuhr zusammen und riss erschrocken den Kopf herum. Ihr Blick prallte gegen das grausig zernarbte Gesicht und den Brustkorb eines riesigen, muskulösen Mannes.
Nein, kein Mann.
Ein Monster mit riesigen Klauen und feurig glühenden Bernsteinaugen, wie die ihrer Angreifer von der Straße.
Ein Vampir.