Sie lachte nicht, obwohl sie sich gar nicht sicher war, dass er es ernst meinte. Seine Wortwahl ließ sie an alte Ideale von Gerechtigkeit und Adel denken, so als hätte er sich einer Art von ritterlichem Ehrenkodex verschrieben.
„Nun, ich kann nicht behaupten, dass ich diese Berufsbezeichnung schon mal in einem Lebenslauf gelesen habe. Was mich angeht, ich bin einfach die niedergelassene Tierärztin von nebenan.“
„Und womit verdient Ihr Freund seine Brötchen?“
„Exfreund“, gab sie mit ruhiger Stimme zurück. „Ben und ich sind schon seit einer Weile nicht mehr zusammen.“
Dante blieb stehen, um sie anzusehen, etwas Dunkles blitzte über seine Züge. „Haben Sie mich angelogen?“
„Nein, ich habe nur gesagt, dass ich mit Ben auf der Ausstellung war. Sie haben einfach angenommen, dass er mein Freund ist.“
„Und Sie haben mich in dem Glauben gelassen. Warum?“
Tess zuckte die Schultern, sie war sich nicht sicher. „Vielleicht habe ich Ihnen nicht genug vertraut, um Ihnen die Wahrheit zu sagen.“
„Aber jetzt vertrauen Sie mir?“
„Ich weiß nicht. Ich brauche lange, bis ich jemandem vertrauen kann.“
„Ich auch“, sagte er und sah sie jetzt noch intensiver an als zuvor. Sie nahmen ihren Spaziergang wieder auf. „Sagen Sie, wie sind Sie denn eigentlich zusammengekommen mit diesem … Ben?“
„Wir haben uns vor ein paar Jahren über meine Praxis kennengelernt. Er ist mir immer ein guter Freund gewesen.“
Dante grunzte, sagte aber nichts weiter dazu. Weniger als einen Häuserblock vor ihnen lag der Charles River, wo Tess am liebsten spazieren ging. Sie schritt ihm voran über die Straße und betrat einen der gekiesten Uferpfade.
„Das glauben Sie doch nicht im Ernst“, sagte Dante, während sie sich der dunklen, gekräuselten Wasserfläche des Charles näherten. „Sie sagen, er ist ein guter Freund, aber Sie sind nicht ehrlich. Nicht zu mir, und auch nicht sich selbst gegenüber.“
Tess runzelte die Stirn. „Wie um alles in der Welt können Sie wissen, was ich denke oder nicht denke? Sie wissen gar nichts über mich.“
„Sagen Sie mir, dass ich mich irre.“
Sie setzte an, ihm genau das zu sagen, aber sein unerschütterlicher Blick sah bis in ihr Innerstes hinein. Er
„Auf der Ausstellung“, sagte sie, ihre Stimme ruhig in der kühlen Dunkelheit, „hast du mich geküsst.“
„Das habe ich.“
„Und dann bist du ohne ein Wort verschwunden.“
„Ich musste fort. Wäre ich nicht gegangen, hätte ich mich vielleicht nicht zufrieden gegeben mit nur einem Kuss.“
„Mitten in einem Saal voller Leute?“ Er sagte nichts, um ihr zu widersprechen. Und seine einladend geschwungenen Lippen sandten Feuerpfeile durch ihre Adern. Tess schüttelte den Kopf. „Ich bin mir noch nicht mal sicher, warum ich es überhaupt zugelassen habe.“
„Wäre es dir lieber, ich hätte es nicht getan?“
„Es macht keinen Unterschied, ob ich es wollte oder nicht.“
Sie verfiel in ein schnelleres Tempo und ging vor ihm her.
„Du läufst schon wieder davon, Tess.“
„Tu ich nicht!“ Der angstvolle Ton ihrer Stimme überraschte sie. Und sie rannte wirklich, ihre Füße versuchten, sie so weit wie möglich von ihm fortzutragen, auch wenn alles andere in ihr von ihm angezogen wurde wie von einem Magnetfeld. Sie zwang sich, stehen zu bleiben. Ruhig zu bleiben, als Dante neben ihr ankam und sie herumdrehte, bis sie ihn ansah.
„Wir laufen alle vor etwas davon, Tess.“
Sie konnte ein kleines, verächtliches Schnauben nicht unterdrücken. „Sogar du?“
„Sogar ich.“ Er starrte auf den Fluss hinaus und nickte, als sein Blick zu ihr zurückkehrte. „Willst du die Wahrheit wissen, die absolute Wahrheit? Ich laufe schon mein ganzes Leben lang davon – und das ist länger, als du dir vorstellen kannst.“
Das fand sie schwer zu glauben. Gut, sie wusste nur sehr wenig über ihn. Aber wenn sie ihn in einem Wort beschreiben müsste, hätte sie es vermutlich mit dem Wort
„Vor dem Tod.“ Einen Moment lang war er still und nachdenklich. „Manchmal denke ich, wenn ich mich nur schnell genug bewege, wenn ich mich nicht dazu hinreißen lasse, mich von Hoffnung oder irgendetwas anderem festnageln zu lassen, das mich in Versuchung führt, einen falschen Schritt zu tun …“ Er knurrte einen Fluch in die Dunkelheit. „Ich weiß auch nicht. Ich bin mir nicht sicher, ob es möglich ist, seinem Schicksal zu entkommen, egal wie schnell oder wie weit wir vor ihm davonlaufen.“