Skar nickte wortlos und trat einen Schritt zurück. Coar verschwand mit eiligen Schritten im angrenzenden Gang. Augenblicke später hörte er gedämpfte Stimmen, die dann vom Geräusch einer zuschlagenden Tür abrupt abgeschnitten wurden.
Er war allein in dem langen, schmalen Gang. Der Wächter, der sie eingelassen hatte, war verschwunden, ohne daß Skar bemerkt hätte, wohin. Der Gang schien außer der Eingangstür und der Pforte am oberen Ende der Treppe, an der er stand, keinerlei Ausgänge zu besitzen, aber hinter den rankenden Grüngewächsen an den Wänden konnten sich Dutzende von Öffnungen befinden. Wahrscheinlich; überlegte er matt, beobachteten sie ihn in diesem Moment – wer immer sie sein mochten.
Er lehnte sich gegen die Wand, verschränkte die Arme vor der Brust und schloß für einen Moment die Augen. Müdigkeit kroch wie eine dumpfe, betäubende Wolke in ihm empor. Der Waffengurt an seiner Seite wurde plötzlich unerträglich schwer, und der lederne Brustharnisch schien sich von einer Sekunde auf die andere in eine zollstarke Eisenplatte zu verwandeln. Er öffnete die Augen, schüttelte den Kopf und ballte ein paarmal kurz und heftig die Fäuste; ein Trick, der fast immer half, die Müdigkeit zu verscheuchen. Diesmal klappte es nur bedingt. Er war einfach am Ende, ausgelaugt und fertig. Was er brauchte, war Schlaf, einen, vielleicht zwei Tage Schlaf und kräftige Nahrung.
Er stieß sich von der Wand ab, ging ein paar Schritte und betrachtete – weniger aus wirklichem Interesse als vielmehr, um überhaupt irgend etwas zu tun und die immer drängendere Müdigkeit zu überspielen – die Bilder entlang der Wände. Sie schienen alle von der Hand des gleichen Künstlers geschaffen zu sein und zeigten ausnahmslos Tier- und Pflanzenmotive: Vögel, Pferde, Wölfe, aber auch Fabelwesen, wie er sie noch nie zuvor erblickt hatte. Eines der Bilder erregte seine besondere Aufmerksamkeit. Im ersten Augenblick war er sich nicht einmal sicher, was das darauf abgebildete Etwas darstellen sollte – eine schwarze, unangenehm anzuschauende Masse, die an ein Nest sich windender Schlangen, an Spinnenbeine und glitschige Krakenarme erinnerte.
Durch einen genialen Trick hatte der Künstler sogar den Anschein von Bewegung festgehalten: Wenn man nur lange genug auf das unentwirrbare Gekringel schwarzglänzender Linien und Striche starrte, schien das Fabelwesen zum Leben zu erwachen. Es wand sich, wogte hierhin und dorthin und griff mit seinen widerwärtigen Tentakeln nach dem Betrachter, so daß Skar unwillkürlich einen halben Schritt zurückwich, ehe er sich bewußt wurde, wie albern er sich verhielt. Er lächelte, wandte sich ab und betrachtete eines der danebenhängenden Gemälde. Aber der phantastische Anblick ließ ihn nicht so rasch los. Nach einer Weile trat er erneut an das Bild, unterdrückte das dumpfe Ekelgefühl, das aus seinem Magen emporkroch, und zwang sich, jede Einzelheit des Bildes genau zu betrachten. Das Kunstwerk irritierte ihn; weniger wegen seines abscheulichen Inhaltes als vielmehr wegen seiner Andersartigkeit. Es war das einzige, das kein Motiv aus dem Waldleben oder der Stadt zeigte, das einzige Lebewesen, das nicht in die Reihe von Wald- und Fabeltieren paßte, die auf den übrigen Gemälden abgebildet waren. Trotzdem konnte sich Skar mit dem Gedanken, daß der Künstler hier seiner Phantasie einfach freien Lauf gelassen und ein nicht existentes Phantasiemonster geschaffen hatte, nicht anfreunden. Obwohl fremdartig, war das Ding –wie er es in Ermangelung eines passenden Begriffes nannte –von einer bedrückenden Realität. Er versuchte sich vorzustellen, wie es sein mußte, einer derartigen Scheußlichkeit wirklich gegenüberzustehen, aber der Gedanke erfüllte ihn mit Furcht, beinahe Panik. Angeekelt wandte er sich ab.
Coar stand hinter ihm, als er sich herumdrehte. Er hatte nicht gehört, daß sie zurückgekommen war. Trotz ihrer schweren Rüstung und der eisenbeschlagenen Reitstiefel bewegte sie sich lautlos und elegant wie eine Katze. Sie blickte an ihm vorbei auf das Bild, wandte dann ruckartig den Kopf und sah ihm ins Gesicht.
»
Skar brauchte endlose Sekunden, um den Sinn dieses Wortes zu begreifen. »Du . . . du meinst, das sind . . .?«
Coar nickte. »Du hast gefragt, warum wir die Hoger verbrennen«, antwortete sie ruhig. »Nun weißt du es.«
Skar blinzelte verwirrt, wandte sich dann widerstrebend um und starrte noch einmal auf das Bild. Der Eindruck des Lebendigen, Mörderischen verstärkte sich mit einemmal.
»Du meinst«, begann er nach einer Weile noch einmal, »die toten Hoger verwandeln sich in . . . in diese Bestien?«
Coar nickte wortlos. Sekundenlang starrte sie noch an Skar vorüber auf das Bild, dann riß sie sich mit merklicher Anstrengung Ios und drehte sich um. »Logar erwartet dich«, murmelte sie. »Komm.«