»Nicht die Macht, die man hat, macht einen zu einem Feigling oder zu einem Schläger«, sagte Volemak. »Es liegt daran, wie man sie einsetzt. Glaubst du, es nimmt dem Mantel irgend etwas von seiner Macht, daß er dort gefesselt liegt? So schlimm du ihn auch behandelst, so schlimm du uns alle auch behandelst … Nafai hat sich entschlossen, dich nicht einfach an Ort und Stelle zu töten.«
»Dann tu es, Nafai«, sagte Elemak leise. »Wenn du die Macht hast, mich zu töten … töte mich. Du hast schon einmal getötet. Einen Betrunkenen, der bewußtlos in der Gosse lag, glaube ich. Das ist deine Spezialität: Leute zu töten, die sich nicht wehren können. Aber Vater hält
Der Wutschrei einer Frau und das Geräusch einer Rauferei erklangen. Dann wurde jemand gegen eine Wand gestoßen; eine Frau schrie. Nafai versuchte, die Augen zu öffnen. Er konnte jedoch nur die Wand sehen, gegen die er gedrückt wurde. »Luet«, flüsterte er.
»Luet kann sich nicht selbst heilen, oder?« sagte Elemak. »Daran sollte sie sich erinnern, bevor sie mich angreift.«
»Alles, was du tust«, sagte Nafai, »verbraucht den Sauerstoff, den deine Kinder zum Atmen benötigen.«
»Du kannst es jederzeit beenden, Njef«, sagte Elemak. »Du mußt nur sterben.«
»Und was dann?« fragte Volemak. »Dann wirst du den nächsten hassen, der besser ist als du, und zwar aus demselben Grund.
Die Stange knallte mitten in Nafais Gesicht. Er fühlte, wie sie sämtliche Knochen auf der Vorderseite seines Kopfes zerschmetterte. Dann wurde alles schwarz.
Ein Augenblick später? Es hätte sein können; es hätten aber auch Stunden oder Tage sein können. Er war wieder bei Bewußtsein, und sein Gesicht war nicht zertrümmert. Nafai fragte sich, ob er allein war. Fragte sich, was mit Vater und Mutter geschehen war. Mit Luet. Mit Elemak.
Jemand war im Raum. Jemand atmete.
»Um so besser«, sagte die Stimme. Ein Flüstern. Schwer zu erkennen. Nein, ganz leicht. Elemak. »Die Überseele gewinnt erneut.«
Dann ging das Licht wieder aus, die Tür wurde geschlossen, und er war allein.
Eiadh sang den kleinen Kindern, Yista und Manja und Zhivja, leise etwas vor, als Protschnu zu ihr kam. Sie hörte, wie er das Zimmer betrat. Die Tür glitt auf und hinter ihm wieder zu. Sie sang weiter.
»Singen ist Sauerstoffverschwendung«, sagte Protschnu leise.
»Weinen auch«, gab Eiadh ruhig zurück. »Drei Kinder weinen jetzt nicht mehr, weil eine Person gesungen hat. Wenn du gekommen bist, um mein Singen zu unterbinden, kannst du gleich wieder gehen. Melde deinem Vater mein Verbrechen. Vielleicht wird er deshalb so wütend, daß er mich verprügelt. Vielleicht darfst du ihm dabei helfen.«
Sie sah ihn noch immer nicht an. Sie hörte, daß er ein wenig schwerer atmete. Ein bißchen abgehackt vielleicht. Doch als er erneut sprach, war sie erstaunt, daß seine Stimme vor kaum zurückgehaltenem Weinen ganz hoch klang. »Es ist nicht meine Schuld, daß du dich gegen Vater gestellt hast.«
Seine Zurückweisung in der Bibliothek hatte sie dermaßen schwer getroffen, daß sie seitdem nicht mehr mit ihm gesprochen und auch vermieden hatte, an ihn zu denken. Protschnu, ihr ältester Sohn, sagte so schreckliche Dinge zu seiner eigenen Mutter. Der junge hatte in diesem Augenblick so wild ausgesehen, so sehr wie Elemak, daß sie den Eindruck gehabt hatte, sie würde ihn gar nicht kennen. Aber sie kannte ihn, nicht wahr? Er war erst acht Jahre alt. Es war nicht richtig, daß er von streitenden Eltern hin und her gerissen wurde.
»Ich habe mich nicht gegen deinen Vater gestellt«, sagte sie leise. »Ich habe mich gegen das gestellt, was er tut.«
»Nafai hat uns betrogen.«
»Die Überseele hat uns betrogen. Und alle Eltern dieser Kinder. Nicht nur Nafai.«
Protschnu schwieg. Vielleicht habe ich ihn zur Einsicht gebracht, dachte sie. Aber nein, er dachte an etwas ganz anderes. »Liebst du ihn?«
»Ja, ich liebe deinen Vater. Aber wenn er zuläßt, daß der Zorn ihn beherrscht, tut er böse Dinge. Und diese bösen Taten lehne ich ab.«
»Ich habe nicht Vater gemeint.«