Читаем Gertrud / Гертруда. Книга для чтения на немецком языке полностью

Den Brief steckte ich in die Tasche, er focht mich nicht an. Aber das Telegramm quälte mich, es hatte sich in meine Gedanken eingehängt und meine Kreise gestört. Ich saß ihm gegenüber und sah es liegen, und ich besann mich, ob ich es lesen sollte oder nicht. Natürlich war es ein Angriff auf meine Freiheit, daran zweifelte ich nicht. Irgend jemand wollte versuchen, mich zu stören. Man missgönnte mir die Flucht, man wollte, dass ich mein Leid ausfresse und durchkoste, dass kein Biss und Stich und kein Krampf mir erspart werde[71].

Warum mir das Telegramm so zu schaffen machte, weiß ich nicht. Lange saß ich am Tisch und wagte es nicht zu öffnen, im Gefühl, es berge eine Macht, mich wieder zurückzuziehen und mich zum Ertragen des Unerträglichen zu zwingen, dem ich entrinnen wollte. Als ich es endlich doch öffnete, zitterte es mir in der Hand, und ich entzifferte nur langsam, als müsse ich aus einer ungewohnten fremden Sprache übersetzen, den Inhalt. Der hieß: »Vater sterbend. Bitte sofort kommen. Mama.« Allmählich begriff ich, was es bedeute. Gestern noch hatte ich an meine Eltern gedacht und bedauert, ihnen wehtun zu müssen, doch es war nur eine oberflächliche Erwägung gewesen. Nun erhoben sie Widerspruch, rissen mich zurück, machten ihr Recht geltend. Sogleich fielen mir die Gespräche ein, die ich an Weihnachten mit meinem Vater geführt hatte. Junge Leute, hatte er gesagt, können in ihrem Egoismus und Unabhängigkeitsgefühl dazu kommen, eines ungestillten Wunsches wegen das Leben wegzuwerfen; wer aber sein Leben mit anderen Leben verbunden wisse, den könnten die eigenen Begierden nicht mehr so weit führen. Und da hing auch ich an einem solchen Bande! Mein Vater lag sterbend, die Mutter war allein bei ihm, sie rief mich. Sein Sterben und ihre Not griff mir im Augenblick noch nicht ans Herz, ich glaubte schlimmere Leiden zu kennen; aber dass es nicht angehe, ihnen jetzt noch mein eigenes Bündel[72] hinzuwerfen, ihre Bitte nicht zu hören, ihnen davonzulaufen, das sah ich wohl ein.

Am Abend stand ich reisefertig auf dem Bahnhof, tat willenlos und doch gewissenhaft das Notwendige, nahm die Karte, strich Geld ein, das mir zurückgegeben wurde, stellte mich am Perron auf und stieg in einen Wagen. Da setzte ich mich in die Ecke, einer langen Nachtreise gewärtig. Ein junger Mensch stieg ein, sah sich um, grüßte und setzte sich mir gegenüber. Er fragte etwas, ich sah ihn nur an, nichts denkend und wünschend, als dass er mich allein lassen möge. Er hustete und stand auf, nahm seine Tasche aus gelbem Leder und suchte einen anderen Platz.

Der Zug fuhr durch die Nacht, blind in blödsinnigem Eifer, genau so dumpf und gewissenhaft wie ich, als ob etwas zu versäumen oder etwas zu retten wäre. Nach Stunden, als ich in die Tasche griff, fiel mir der Brief in die Hand. Auch der ist noch da, dachte ich, und machte ihn auf.

Da schrieb mein Verleger über Konzerte und Honorare und teilte mir mit, er stehe gut und gehe vorwärts, ein großer Kritiker in München habe über mich geschrieben, er gratuliere dazu. Dabei lag der Ausschnitt aus einer Zeitschrift, ein Artikel mit meinem Namen und Titel, und ein langes Getöne vom Stand der heutigen Musik und von Wagner und von Brahms, und dann eine Kritik meiner Streichmusik und meiner Lieder, und ein reichliches Lob und Glückauf; und während ich die kleinen schwarzen Buchstaben las, ward mir allmählich klar, dass das mir gelte, dass da die Welt und der Ruhm mir die Hand hinüberstrecke. Da musste ich einen Augenblick lachen.

Aber der Brief und der Artikel hatte mir die Binde vor den Augen gelockert, und unvermutet sah ich in die Welt zurück und sah mich nicht ausgelöscht und zurückgesunken, sondern mitten darin und dazugehörend. Ich musste leben, ich musste es mir gefallen lassen. Wie war das möglich? Ach, nun stieg alles wieder herauf, was seit fünf Tagen war und was ich nur dumpf gefühlt, und dem ich zu entgehen gedacht hatte, und es war alles ekelhaft, bitter und schmählich. Es war alles ein Todesurteil, und ich hatte es nicht vollzogen, ich musste es unvollzogen lassen.

Ich hörte den Zug knattern, ich öffnete das Fenster und sah dunkle Gegenden geduckt dahinstreichen, traurige kahle Bäume mit schwarzem Geäst, und Höfe unter großen Dächern, und ferne Hügel. Das alles schien ungern zu existieren, schien Leid und Widerwillen zu atmen. Man konnte es schön finden, mir aber kam es nur traurig vor. Das Lied fiel mir ein: »Hat das Gott gewollt?«

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Джеймс Джойс – великий ирландский писатель, классик и одновременно разрушитель классики с ее канонами, человек, которому более, чем кому-либо, обязаны своим рождением новые литературные школы и направления XX века. В историю мировой литературы он вошел как автор романа «Улисс», ставшего одной из величайших книг за всю историю литературы. В настоящем томе представлена вся проза писателя, предшествующая этому великому роману, в лучших на сегодняшний день переводах: сборник рассказов «Дублинцы», роман «Портрет художника в юности», а также так называемая «виртуальная» проза Джойса, ранние пробы пера будущего гения, не опубликованные при жизни произведения, таящие в себе семена грядущих шедевров. Книга станет прекрасным подарком для всех ценителей творчества Джеймса Джойса.

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