So sehr ich versuchte, die Bäume und Felder und Dächer draußen zu betrachten, so eifrig ich auf den Takt der Räder horchte, so heftig ich mich in Gedanken an alles klammerte, was irgend fern war und woran sich ohne Verzweiflung denken ließ, es war nicht lange möglich. Auch an den Vater konnte ich kaum denken. Er sank hinab mit Bäumen und Nachtgelände zusammen in Vergessenheit, und wider meinen Willen und mein Bemühen kehrten meine Gedanken dahin zurück, wo sie nicht sein durften. Da lag ein Garten mit alten Bäumen, und darin ein Haus, am Eingang Palmen und an allen Wänden alte Gemälde, und ich trat ein und stieg die Treppe hinan, an allen alten Bildern vorüber, und niemand sah mich, ich ging als ein Schatten hindurch. Da war eine schlanke Dame, die wandte mir den Rücken zu, ein Haupt mit dunkelblondem Haar. Ich sah sie beide, sie und ihn, die sich umschlungen hielten, und ich sah meinen Freund Heinrich Muoth lächeln, so schwermütig und grausam, wie er es manchmal tat, als wisse er schon, dass er auch diese Blonde missbrauchen und misshandeln werde, und als sei dagegen nichts zu machen. Es war töricht und hatte keinen Sinn, dass diesem Armen und Verderber die schönsten Frauen zufielen, und dass bei mir alle Liebe und alles Wohlmeinen vergeblich blieb. Es war töricht und hatte keinen Sinn, aber es war so.
Aus einer Art von Schlaf oder Bewusstlosigkeit erwachend, sah ich vor dem Fenster Morgengrau und fahle Himmelshelle. Ich streckte erstarrte Glieder, fühlte Nüchternheit und Bangen und sah nun die Dinge trüb und verdrossen vor mir liegen. Zunächst war jetzt an den Vater und an die Mutter zu denken.
Es war noch grau und morgenfrüh, da sah ich die Brücken und Häuser der Heimatstadt sich nähern. Im Gestank und Geschrei des Bahnhofs befiel mich Müdigkeit und Widerwillen so stark, dass ich kaum aussteigen mochte; dann nahm ich mein leichtes Gepäck und stieg in den nächsten Wagen, der fuhr über glatten Asphalt, und hernach über leichtgefrorene Erde und über dröhnendes Pflaster und hielt vor dem breiten Tor unseres Hauses, das ich nie geschlossen gesehen hatte.
Jetzt aber war es geschlossen, und als ich, verwirrt und erschrocken, die Glocke zog, kam niemand und keine Antwort. Ich blickte am Haus hinauf und war wie in einem unangenehmen, närrischen Traum, wo alles verschlossen ist und man über Dächer steigen muss. Der Kutscher schaute verwundert zu und wartete. Ich ging beklommen zu der anderen Tür, die ich nur selten und seit Jahren nicht mehr durchschritten hatte. Die war offen, und dahinter war meines Vaters Kontor, und als ich eintrat, saßen da in grauen Röcken wie immer, still und staubig, die Bureauherren, die standen bei meinem Eintritt auf und grüßten, denn ich war der Erbe. Der Buchhalter Klemm, der nicht anders aussah als vor zwanzig Jahren, machte seinen Bückling und sah mich traurig fragend an.
»Warum ist vorn geschlossen?« fragte ich.
»Es ist niemand da.«
»Wo ist denn mein Vater?«
»Im Spital, und die Gnädige auch.«
»Lebt er noch?«
»Er hat heut morgen noch gelebt, man wartet aber«
»Ja. Was ist denn?«
»Wie? Ach so, es ist immer noch der Fuß. Er war falsch behandelt, sagen wir alle. Auf einmal kamen Schmerzen, der Herr hat schrecklich geschrien. Da wurde er ins Spital gebracht. Jetzt ist es Blutvergiftung. Um zwei Uhr dreißig haben wir Ihnen gestern depeschiert.«
»Ja, danke. Nun lassen Sie mir schnell ein Butterbrot und ein Glas Wein bringen, und einen Wagen, bitte.«
Man lief und flüsterte, und es wurde wieder still, dann gab mir jemand einen Teller und ein Glas, ich aß Brot und trank Wein, ich stieg in einen Wagen, ein Pferd schnob, und bald stand ich an der Spitalpforte, wo Schwestern mit weißen Hauben und Wärter mit blaugestreiften Leinenanzügen durch den Korridor liefen. Man nahm mich an der Hand und zog mich in ein Zimmer, aufschauend sah ich meine Mutter in Tränen nicken und in einem eisernen, niedern Bett meinen Vater liegen, verändert und klein, und sein kurzer, grauer Bart stand sonderbar in die Luft.
Er lebte noch, er machte die Augen auf und erkannte mich trotz des Fiebers.
»Immer noch Musik machen?« sagte er leise, und Stimme und Blick war ebenso gütig wie spöttisch. Er blinkte mir zu mit einer müden ironischen Weisheit, die nichts mehr zu sagen hat, und mir war, er schaue mir ins Herz und sehe und wisse alles.
»Vater«, sagte ich. Aber er lächelte nur, blickte noch einmal halb spöttisch, doch mit schon zerstreutem Blick, und schloss die Augen wieder.
»Wie siehst du aus!« sagte die Mutter, als sie mich umarmte. »Hat es dich so mitgenommen?«