Was mich an seinen Worten ergriff und in Erstaunen setzte, war ihre Übereinstimmung mit dem, was mein Vater mir beim letzten Zusammensein als Lebensweisheit dargetan hatte: Leben für andere, sich selber nicht so ernst nehmen! Die Lehre widersprach meinem Gefühl unmittelbar, sie schmeckte auch ein wenig nach Katechismus und Konfirmandenunterricht, an welche ich, wie jeder gesunde junge Mensch, mit Abscheu und Verachtung dachte. Aber schließlich handelte es sich ja nicht um Meinungen und Weltanschauungen, sondern um einen ganz praktischen Versuch, das schwere Leben erträglich zu machen. Ich wollte ihn machen.
Verwundert sah ich dem Manne in die Augen, den ich nie recht ernst genommen hatte und jetzt als Ratgeber, ja als Arzt gelten ließ. Aber er schien wirklich etwas von jener Liebe zu haben, die er mir empfahl. Er schien mein Leiden zu teilen und mir ehrlich alles Gute zu wünschen. Ohnehin hatte mein Gefühl mir schon gesagt, dass ich eine gewaltsame Kur nötig habe, um wieder leben und atmen zu können wie andere. Ich hatte an eine lange Bergeinsamkeit oder an ein wildes Arbeiten gedacht, nun wollte ich aber lieber meinem Ratgeber folgen, da meine Erfahrung und Weisheit doch am Ende war.
Als ich meiner Mutter eröffnete, ich gedenke sie nicht alleine zu lassen, sondern hoffe, sie werde zu mir ziehen und mein Leben teilen, da schüttelte sie traurig den Kopf. »Was denkst du!« wehrte sie ab. »Das geht nicht so einfach. Ich habe meine alten Gewohnheiten und kann nimmer neu anfangen, und du brauchst Freiheit und darfst dich nicht mit mir beladen.«
»Wir können es ja einmal versuchen«, schlug ich vor. »Vielleicht geht es leichter, als du meinst.«
Fürs erste hatte ich genug zu tun, um vom Grübeln und Verzweifeln abgehalten zu sein. Da stand ein Haus und war ein ausgedehntes Geschäft mit Guthaben und mit Schulden, da waren Bücher und Rechnungen, was Geld ausgeliehen und Geld aufgenommen, und es war die Frage, was aus dem allen werden solle. Ich war natürlich von Anfang an entschlossen, alles zu verkaufen, doch ging das nicht so rasch, auch hing die Mutter an dem alten Hause, und das Testament meines Vaters wollte auch erfüllt sein, mit allerlei Haken und Schwierigkeiten. Der Buchhalter und ein Notar mussten helfen, die Tage und Wochen gingen mit Besprechungen hin, mit Briefwechsel um Geld und Schulden, mit Plänen und Enttäuschungen. Ich kannte mich bald in allen diesen Rechnungen und amtlichen Formularen nicht mehr aus, gab dem Notar noch einen Rechtsanwalt bei und überließ ihnen die Entwirrung.
Darüber kam meine Mutter nicht selten zu kurz[74]
. Ich gab mir Mühe, ihr diese Zeit leichter zu machen, ich hielt ihr alle Geschäfte vom Halse, ich las ihr vor und fuhr mit ihr spazieren. Zuweilen fiel es mir schwer, nicht auszureißen und alles liegenzulassen, doch hielt das Schamgefühl und eine gewisse Neugierde, wie es gehen werde, mich zurück.Meine Mutter dachte an nichts als an den Verstorbenen, doch zeigte sich ihre Trauer in lauter kleinen, frauenhaften, mir fremden und oft kleinlich scheinenden Zügen. Anfangs musste ich bei Tisch an des Vaters Platz sitzen, dann fand sie, ich passe doch nicht dahin, und der Platz musste leer bleiben. Manchmal konnte ich ihr nicht genug vom Vater sprechen, dann wieder ward sie still und sah mich leidend an, sobald ich ihn nur nannte. Am meisten fehlte mir die Musik. Ich hätte viel darum gegeben, einmal eine Stunde geigen zu können, aber das durfte ich erst nach vielen Wochen wieder, und auch dann seufzte sie und fühlte einen Verstoß darin. Auf meine unfrohen Bemühungen, ihr mein Wesen und Leben näherzubringen und ihre Freundschafft zu gewinnen, ging sie nicht ein.
Da litt ich oft und wollte es aufgeben, doch bezwang ich mich wieder und gewöhnte mich an diese Tage ohne Resonanz. Mein eigenes Leben lag brach und tot, nur selten klang das Gewesene dunkel herüber, wenn ich im Traum die Stimme Gertruds hörte oder in einer leeren Stunde mir ungewollt Melodien aus meiner Oper einfielen. Als ich nach R. reiste, um meine Wohnung dort aufzugeben und meine Sachen einzupacken, schien alles dortige mir um Jahre entfernt. Ich besuchte Teiser, der mir treulich beistand. Nach Gertrud wagte ich nicht zu fragen.
Gegen das zurückhaltend resignierte Benehmen meiner Mutter, die mich auf die Dauer allzusehr bedrückte, musste ich allmählich einen regelrechten, versteckten Kampf beginnen. Bat ich sie offen, mir zu sagen, was sie wünsche und worin sie etwa mit mir unzufrieden sei, so streichelte sie traurig lächelnd meine Hand und sagte: »Lass nur, Kind! Ich bin eben eine alte Frau.« So begann ich denn auf eigene Faust zu forschen, wobei ich auch Fragen an den Buchhalter und die Dienstboten nicht verschmähte.