Im Laufe des Herbstes wurde meine Oper fertig. In dieser Zeit begegnete mir in einem Konzert Herr Imthor. Er begrüßte mich herzlich und etwas verwundert, da er nichts von meinem Aufenthalt in der Stadt wusste. Er hatte nur gehört, mein Vater sei gestorben und ich lebe seither in meiner Heimat.
»Und wie geht es Fräulein Gertrud?« fragte ich möglichst ruhig.
»Oh, Sie sollten selber kommen und danach sehen. Anfang November soll ihre Hochzeit sein, da rechnen wir ohnehin bestimmt auf Sie.«
»Danke, Herr Imthor. Und was hören Sie von Muoth?«
»Er ist wohl. Sie wissen, ich bin mit der Heirat nicht recht einverstanden. Ich hätte Sie schon lange gerne einmal über Herrn Muoth befragt. Soweit ich ihn kenne, darf ich nicht über ihn klagen. Aber ich hörte so mancherlei über ihn: er soll ja mit vielen Frauen zu tun gehabt haben. Können Sie mir darüber etwas sagen?«
»Nein, Herr Imthor. Es hätte ja auch keinen Zweck. Ihre Tochter wird auf Gerüchte hin sich schwerlich anders entschließen. Herr Muoth ist mein Freund, und ich gönne es ihm, wenn er sein Glück findet.«
»Ja, ja. Sieht man Sie bald mal wieder bei uns?«
»Ich denke wohl. Auf Wiedersehen, Herr Imthor.«
Es war noch nicht lange her, da hätte ich alles getan, um die Verbindung der beiden zu hindern, nicht aus Neid oder Hoffnung, Gertrud könnte sich doch noch mir selbst zuneigen, sondern weil ich überzeugt war und vorauszufühlen meinte, dass es den beiden nicht gut gehen werde, weil ich an Muoths selbstquälerische Art von Melancholie, an seine Reizbarkeit und Gertruds Zartheit dachte, und weil mir Marion und Lotte noch so wohl im Gedächtnis waren.
Jetzt dachte ich anders. Eine Erschütterung meines ganzen Lebens, ein halbes Jahr innerer Einsamkeit und das bewusste Abschiednehmen von der Jugend hatten mich verändert. Ich war jetzt der Meinung, es sei töricht und gefährlich, seine Hand nach anderer Menschen Schicksal auszustrecken, auch hatte ich keine Ursache, meine Hand für geschickt und mich für einen Helfer und Menschenkenner zu halten, nachdem meine Versuche in dieser Richtung alle missglückt waren und mich bitter beschämt hatten. Auch jetzt noch zweifle ich stark an der Fähigkeit des Menschen, sein Leben und das von anderen irgend bewusst zu bilden und zu formen. Man kann Geld erwerben, auch Ehren und Orden, aber Glück und Unglück erwirbt man nicht, nicht für sich und nicht für andere. Man kann nur hinnehmen, was kommt, und man kann es freilich auf gar verschiedene Weisen hinnehmen. Was mich anging, so wollte ich keine gewaltsamen Versuche mehr machen, mein Leben auf die Sonnenseite hinüberzuspielen, sondern das mir Bestimmte annehmen und nach Vermögen tragen und zum Guten wenden.
Ist nun auch das Leben von solchen Meditationen unabhängig und geht über sie hinweg, so hinterlassen ehrlich gemeinte Entschlüsse und Gedanken doch einen Frieden in der Seele und helfen das Unabänderliche tragen. Wenigstens nahm mich, wie es mir nachträglich scheinen will, seit meiner Ergebung und seit meiner Erkenntnis von der Gleichgültigkeit meines persönlichen Ergehens das Leben in sanftere Hände.
Dass das, was man mit allem Wollen und Mühen nicht erreichen kann, manchmal unerwartet von selber kommt, erfuhr ich bald darauf an meiner Mutter. Ich schrieb ihr jeden Monat und war seit einiger Zeit ohne Antwort von ihr geblieben. Wäre es ihr schlecht gegangen, so hätte ich es erfahren, darum dachte ich wenig an sie und schrieb meine Briefe weiter, kurze Berichte über mein Ergehen, denen ich jedesmal freundliche Grüße an Fräulein Schniebel beifügte.