Mit allen meinen Bemühungen und guten Vorsätzen hatte ich nichts erreicht, als sie und mich ein paar Monate lang zu quälen und sie mir noch viel mehr zu entfremden. Es hatte, trotz des Zusammenlebens, jedes von uns sein Bündel allein getragen[75]
und nicht mit dem andern geteilt, und jedes war nur tiefer in sein Leid und seine Krankheit versunken. Meine Versuche waren fruchtlos geblieben, und ich konnte nichts Besseres tun als gehen und dem Fräulein Schniebel das Feld räumen.Das tat ich denn auch in Bälde[76]
, und da ich keinen anderen Ort wusste, ging ich nach R. zurück. Bei der Abreise kam mir zum Bewusstsein, dass ich nun keine Heimat mehr habe. Die Stadt, in der ich geboren war und die Kinderjahre gelebt und meinen Vater begraben hatte, ging mich nichts mehr an, hatte nichts von mir zu fordern und mir nichts zu geben als Erinnerungen. Ich sagte es dem Herrn Lohe beim Abschiednehmen nicht, aber sein Rezept hatte nicht geholfen.Zufällig stand in R. meine alte Wohnung noch leer. Es war mir wie ein Zeichen, dass es nutzlos sei, den Zusammenhang mit dem Gewesenen abbrechen und sich vor dem eigenen Schicksal flüchten zu wollen. Ich lebte wieder in demselben Hause und Zimmer, in derselben Stadt, packte meine Geige und meine Arbeit wieder aus und fand alles, wie es gewesen war, nur dass Muoth nach München gegangen und Gertrud seine Braut geworden war.
Ich nahm die Stücke meiner Oper in die Hände, als wären es Trümmer meines früheren Lebens, aus denen ich nun noch etwas zu machen versuchen wollte. Doch regte sich die Musik nur langsam wieder in meiner erstarrten Seele und erwachte erst, als der Dichter aller meiner Texte mir ein neues Lied schickte. Es kam in einer Zeit, da ich am Abend nicht selten die alte Unruhe in mir spürte und mit Scham und tausend Irrlichtern im Herzen um den Garten des Imthorschen Hauses strich, und es hieß:
Diese Verse gingen mir ins Herz und erweckten Klang und Leben wieder. Aufgelöst und schmerzlich glühend floss mir die lange verhaltene und betragene Pein in Takte und Töne, von dem Liede weg fand ich den verlorenen Faden der Oper wieder und wühlte mich nach so langer Öde wieder tief in den fiebernden Rausch hinströmenden Ergusses bis zu der freien Höhe des Gefühls, wo Schmerz und Wonne nicht mehr voneinander unterschieden sind und alle Glut und Kraft der Seele sich ungeteilt in einer einzigen steilen Flamme empordrängt.
Am Tage, an dem ich das neue Lied aufgeschrieben und Teiser gezeigt hatte, ging ich abends durch eine Kastanienallee heimwärts, ganz von heraufschwellender Kraft zu neuer Arbeit erfüllt. Noch sahen mich die vergangenen Monate wie aus Maskenaugen in ihrer trostlosen Leere an. Nun schlug mein Herz begehrlich rasch und wollte nicht mehr begreifen, warum es seinem Leide habe entrinnen wollen. Gertruds Bild erhob sich klar und herrlich aus dem Staube, und ich sah ihm wieder unerschrocken in die hellen Augen und öffnete mein Herz allen Schmerzen weit. Ach, es war besser, um sie zu leiden und den Stachel tiefer in die Wunde zu drücken, als fern von ihr und fern von meinem wahren Leben gespensterhafte Zeiten hinzudämmern! Zwischen den dunklen vollen Wipfeln der breiten Kastanien hing schwarzblau der Himmel und war voll Sternen, die schwebten alle ernst und golden und strahlten unbekümmert in die Weiten. So taten die Sterne, und die Bäume trugen ihre Knospen und Blüten und Narben frei zur Schau, und mochte es ihnen Lust oder Weh bedeuten, sie gaben sich dem großen Lebenswillen hin. Die Eintagsfliegen schwärmten taumelnd dem Tod entgegen, jedes Leben hatte seinen Glanz und seine Schönheit, und ich schaute einen Augenblick hinein und verstand es und hieß es gut, und hieß auch mein Leben und meine Leiden gut.