Arbeit und Reisen zur Aufführung meiner Streichmusik hielten mich eine Weile vom Besuch des Imthorschen Hauses ab. Als ich wiederkam, fand ich Muoth, der früher nur in meiner Begleitung hingegangen war, dort unter den meistgeladenen Gästen. Der alte Imthor trat ihm noch immer kühl und leicht ablehnend gegenüber, Gertrud aber schien gut Freund mit ihm geworden zu sein. Mir war das lieb, ich wusste keinen Grund zur Eifersucht und war überzeugt, dass zwei so ungleiche Menschen wie Muoth und Gertrud einander wohl interessieren und anziehen, nicht aber befriedigen und lieben könnten. So sah ich es ohne Misstrauen, wenn er mit ihr sang, und sie beide ihre schönen Stimmen vermischten. Sie sahen gut aus, beide große, hohe, aufrechte Menschen, er dunkel und ernst, sie hell und heiter. Neuerdings kam es mir allerdings zuweilen vor, als habe ihre alte angeborene Heiterkeit einige Mühe, sich zu behaupten, und sei manchmal müde und verschattet. Sie sah mich nicht selten ernsthaft und prüfend an, mit einer Neugierde und einem Interesse, wie bedrückte und geängstigte Menschen einander ansehen; und wenn ich ihr dann zunickte und mit einem fröhlichen Blick antwortete, spannte sie die Züge so langsam und angestrengt zum Lächeln, dass es mir weh tat.
Doch machte ich solche Beobachtungen nur ganz selten, zu anderen Zeiten sah Gertrud so heiter und strahlend aus wie je, so dass ich jene Beobachtungen für Einbildungen hielt oder einem vorübergehenden Unwohlsein zuschrieb. Nur einmal war ich ernstlich erschrocken. Sie saß während einer der Hausfreunde Beethoven spielte, im Halbdunkel zurückgelehnt und musste glauben, ganz unbeobachtet zu sein. Vorher, beim hellen Licht zwischen den Gästen beim Empfang, war sie immer klar und heiter anzusehen gewesen. Nun aber, in sich zurückgezogen und offenbar von der Musik unberührt, ließ sie ihr Gesicht gehen und bekam einen Ausdruck von Müdigkeit, Angst und Scheu wie ein verhetztes, ratlos gewordenes Kind. Es dauerte mehrere Minuten, und als ich das sah, wollte mir das Herz stillstehen. Sie litt und hatte Kummer, schon das war schlimm, und dass sie auch vor mir die Fröhliche spielte und auch mir alles verbarg, machte mich ängstlich. Sobald das Spiel zu Ende war, suchte ich ihre Nähe, setzte mich zu ihr und fing ein harmloses Gespräch an. Ich sprach davon, dass es für sie ein unruhiger Winter sei und dass auch ich dabei entbehre, doch sagte ich alles leichthin in scherzendem Tone. Schließlich erinnerte ich an die Zeit im Frühjahr, da wir die Anfänge meiner Oper miteinander gespielt und gesungen und besprochen hatten.
Da sagte sie: »Ja, das ist eine schöne Zeit gewesen.« Mehr nicht, aber es war doch ein Geständnis, denn sie sagte es mit ungewollter Ernsthaftigkeit. Ich aber las daraus Hoffnung für mich und war ihr im Herzen dankbar.
Gar gern hätte ich ihr meine Frage vom Sommer wiederholt. Die Veränderung in ihrem Wesen, die Befangenheit und unsichere Scheu, die sie gerade vor mir zuweilen zeigte, glaubte ich doch bei aller Bescheidenheit als günstige Anzeichen für mich hinnehmen zu dürfen. Es war mir rührend zu sehen, wie ihr Mädchenstolz krank zu liegen und sich hart zu wehren schien. Doch wagte ich nichts zu sagen, sie tat mir leid in ihrer Unsicherheit, und mein stilles Versprechen glaubte ich auch halten zu müssen. Ich habe nie gewusst mit Frauen umzugehen; ich machte den umgekehrten Fehler wie Heinrich Muoth: ich ging mit Frauen um wie mit Freunden.
Da ich auf die Dauer meine Wahrnehmungen nicht für Täuschungen halten konnte und Gertruds veränderte Art doch nur halb verstand, hielt ich mich zurück, ließ meine Besuche etwas seltener werden und vermied intime Gespräche mit ihr. Ich wollte sie schonen und nicht noch scheuer machen und ängstigen, da sie doch zu leiden und in sich uneins zu sein schien. Sie merkte es, wie ich glaube, und sah meine Zurückhaltung nicht ungern. Ich hoffte, es werde mit dem Ende des Winters und der lebhaften Geselligkeit wieder eine stille, schöne Zeit für uns beide kommen, bis dahin wollte ich warten. Oft aber tat mir das schöne
Mädchen bitter leid, und wider meinen Willen ward ich selber allmählich unruhig und fühlte etwas Schlimmes in der Luft.
Der Februar kam, ich wünschte sehnlich das Frühjahr her und litt unter der Spannung dieses Zustandes. Auch Muoth ließ sich wenig bei mir sehen, allerdings hatte er einen angestrengten Winter an der Oper und war in der Wahl zwischen zwei ehrenvollen Berufungen an große Theater, die ihm neuestens zugekommen waren. Eine Geliebte schien er nicht mehr zu haben, wenigstens hatte ich seit seinem Bruch mit Lotte keine Frau mehr bei ihm gesehen.
Kürzlich hatten wir seinen Geburtstag gefeiert, seither hatte ich ihn nicht gesehen.