Ich traf ihn geneigt zu leicht philosophierenden Gesprächen, kam ihm näher als je und hatte meine Freude an seiner bewährten praktischen Lebensweisheit. Ich konnte ihm manche meiner Leiden klagen, was ich früher aus Scham nie getan hatte. Dabei fiel ein Ausspruch Muoths mir ein, den ich meinem Vater wiederholte. Muoth hatte einmal gesagt, allerdings nicht im Ernst, er halte die Jugend für die schwerste Zeit im Leben und finde, alte Leute seien meistens viel heiterer und zufriedener als junge. Mein Vater lachte dazu und meinte dann nachdenklich: »Wir Alten sagen natürlich das Gegenteil. Aber dein Freund hat doch etwas von der Wahrheit gefühlt. Ich glaube, man kann im Leben eine ganz genaue Grenze ziehen zwischen Jugend und Alter. Die Jugend hört auf mit dem Egoismus, das Alter beginnt mit dem Leben für andere. Ich meine es so: junge Leute haben viel Genuss und viel Leiden von ihrem Leben, weil sie es nur für sich allein leben. Da ist jeder Wunsch und Einfall wichtig, da wird jede Freude ausgekostet, aber auch jedes Leid, und mancher, der seine Wünsche nicht erfüllbar sieht, wirft gleich das ganze Leben weg. Das ist jugendlich. Für die meisten Menschen aber kommt eine Zeit, wo das anders wird, wo sie mehr für andere leben, keineswegs aus Tugend, sondern ganz natürlich. Bei den meisten bringt es die Familie. Man denkt weniger an sich selber und seine Wünsche, wenn man Kinder hat. Andere verlieren den Egoismus an ein Amt, an die Politik, an die Kunst oder Wissenschafft. Die Jugend will spielen, das Alter arbeiten. Es heiratet keiner, damit er Kinder kriege, aber wenn er Kinder kriegt, so ändern sie ihn, und schließlich sieht er, dass alles doch nur für sie geschehen ist. Das hängt damit zusammen, dass die Jugend zwar gern vom Tode redet, aber doch nie an ihn denkt. Bei den Alten ist es umgekehrt. Die Jungen glauben ewig zu leben und können darum alle Wünsche und Gedanken auf sich selber stellen. Die Alten haben schon gemerkt, dass irgendwo ein Ende ist und dass alles, was einer für sich allein hat und tut, am Ende in ein Loch fällt und für nichts war. Darum braucht er eine andere Ewigkeit und den Glauben, er arbeite nicht bloß für die Würmer. Dafür sind Frau und Kind, Geschäft und Amt und Vaterland, damit man wisse, für wen denn das tägliche Schinden und Plagen geschehe. Und darin hat dein Freund ganz recht; man ist zufriedener, wenn man für andere, als wenn man für sich allein lebt. Nur sollten die Alten nicht gar so sehr ein Heldentum daraus machen, was es nicht ist. Auch werden aus den eifrigsten Jungen die besten Alten und nicht aus denen, die schon auf Schulen wie Großväter tun.«
Ich blieb eine Woche zu Hause und saß viel am Bett meines Vaters, der kein geduldiger Kranker und freilich außer der kleinen Verletzung am Fuß bei bester Kraft und Gesundheit war. Ich gestand ihm mein Bedauern darüber, dass ich ihm nicht schon früher gerecht geworden und nachgekommen sei, doch meinte er, das sei gegenseitig, und es werde unserer künftige Freundschafft bekommen, als wenn wir vorzeitige Versuche des Verstehens aneinander gemacht hätten, welche selten gelängen. Vorsichtig und freundlich erkundigte er sich danach, wie es mir mit den Frauen gegangen sei. Von Gertrud mochte ich nichts sagen, meine übrige Beichte war sehr einfach.
»Tröste dich«, sagte mein Vater lächelnd. »Du hast das Zeug zu einem recht guten Ehemann, das merken gescheite Frauen bald. Nur einer ganz armen darfst du nicht glauben, die könnte dein Geld meinen. Und wenn du die nicht findest, die du dir denkst und gerne hättest, so ist auch nicht alles verloren. Die Liebe zwischen jungen Leuten und die in einer langen Ehe ist nicht dieselbe. In der Jugend denkt jedes an sich und sorgt für sich. Aber wenn einmal ein Hausstand da ist, gibt es anderes zu sorgen. Mir ist es auch so gegangen, du darfst es wohl wissen. Ich war in deine Mama sehr verliebt, und es war eine rechte Liebesheirat. Das dauerte aber nur ein Jahr oder zwei, dann hörte die Verliebtheit auf und war bald bis auf den letzten Rest verbraucht, und wir standen da und wussten nicht recht, was miteinander anfangen. Da kamen gerade die Kinder, deine beiden älteren Geschwister, die ja früh gestorben sind, und wir hatte für die zu sorgen. Darüber wurden unsere Ansprüche aneinander kleiner, die Fremdheit hörte wieder auf, und auf einmal war die Liebe wieder da, freilich nicht die alte, sondern eine ganz andere. Und die hat seither gehalten ohne viel Flicken zu brauchen, mehr als dreißig Jahre. Es geht nicht allen Liebesheiraten so gut, sogar sehr wenigen.«
Mir war nun allerdings mit diesen Anschauungen nicht gedient, doch tat das neue, freundschafftliche Verhältnis zu meinem Vater mir wohl und machte mir die Heimat wieder lieb, die mir in den letzten Jahren beinahe gleichgültig geworden war. Als ich wieder abreiste, bereute ich den Besuch nicht und beschloss, künftig in besserer Verbindung mit dem Alten zu bleiben.