Der Hund blieb an einem Grabstein in der nächsten Reihe stehen. Irgendetwas dort fand er wahnsinnig interessant. Selbst aus dieser Entfernung war zu erkennen, dass der Grabstein älter als der von Francis war, aber nicht viel. Vor dem Grabstein lagen ein paar frische Blumen und etwas, das ein von Hand geschriebener Brief zu sein schien. Aber nicht das zog Iris’ Aufmerksamkeit auf sich; Blumen und Briefe ebenso wie eine Vielzahl von Grabbeigaben liebender Angehöriger sah man auf der Hälfte der Gräber auf dem Bayside. Nein, auf Twinkle selbst wurde sie aufmerksam. Offenbar hatte er etwas gefunden, das unten am Grabstein lag, und veranstaltete deswegen ein Riesenspektakel. Weil Twinkle den Gegenstand verdeckte, konnte Iris nicht erkennen, um was es sich dabei handelte, jedenfalls hatte er sich darübergebeugt und schnüffelte und leckte daran.
Das Gebet würde warten müssen, bis sie Twinkle wieder an der Leine hatte.
Iris steckte das Taschentuch zurück in die Handtasche und näherte sich Twinkle mit langen Schritten. Doch während sie schimpfend näher kam, packte er den gerade eben gefundenen Schatz und lief davon. Entsetzt und zugleich verlegen sah Francis ihn in einer Gruppe Palmettopalmen aus dem Blickfeld verschwinden.
Verärgert seufzte sie auf. Francis hätte das gar nicht gern gesehen; er hatte stets darauf bestanden, dass Hunde artig und folgsam zu sein hätten. »Dieser dumme kleine Köter«, hätte er gesagt. Na ja, heute Abend würde Twinkle erleben, was Zucht und Ordnung bedeuteten: keinen leckeren Keks im Futter.
Leise vor sich hin murmelnd, folgte Iris der Richtung, in die der Hund gelaufen war. Als sie bei der Gruppe Palmen ankam, blieb sie stehen und blickte sich um. Twinkle war nirgends zu sehen. Sie wollte ihr Hündchen schon rufen, besann sich jedoch eines Besseren – sie befand sich ja schließlich auf einem Friedhof. Einem Hund hinterherzurennen, der sich losgerissen hatte, war schon schlimm genug. Und jetzt erkannte sie auch, woher die Bewegungen, die sie vorhin bemerkt hatte, rührten: von einer aus drei Personen bestehenden Gruppe – zwei Mädchen und ein Mann in mittleren Jahren, die links von ihr in einem Halbkreis um ein Grab standen.
Just in diesem Moment fiel Iris’ Blick auf eine blitzschnelle Bewegung: Twinkle. Er stand etwa sieben Meter vor ihr, dort, wo der Friedhof ans Wasser grenzte, und wühlte wie verrückt in einem Amaryllis-Beet. Die Erde spritzte nur so auf.
Das war ja
»Böser Hund!«, schalt Iris so laut, wie sie sich traute. »Böser, böser Hund!« Sie wollte sich schnappen, was Twinkle da gefunden hatte, in der Absicht, es ihm wegzunehmen, doch er entwischte ihrem Griff. Der Gegenstand hatte die Größe eines Mini-Spielzeugfußballs, war aber derart dick von Schmutz und Hundespeichel überzogen, dass sie nicht erkennen konnte, worum genau es sich handelte.
»Lass das los, hast du verstanden?« Twinkle knurrte, als Iris erneut die Hand danach ausstreckte, aber diesmal gelang es ihr, ein Ende des Gegenstands zu packen. Sie wusste ja, er würde sie nicht beißen – es ging nur darum, dass sie ihm das Ding aus dem Maul zog. Nur war Twinkles Beute ekelerregend schlüpfrig, und er hielt sie hartnäckig fest. Es kam zu einer Art Zweikampf: Iris zog den Hund zu sich heran, Twinkle wehrte sich und grub die Pfoten in den Sand. Ein wenig ängstlich sah Iris nach hinten, aber die Gruppe an der anderen Grabstätte hatte nichts mitbekommen.
Das heftige Tauziehen dauerte fast eine halbe Minute. Am Ende war der Gegenstand schlicht zu groß, als dass Twinkles kleines Maul ihn festhalten konnte, und mit einem entschlossenen Ruck gelang es Iris, ihm ihn zu entreißen. Nachdem sie sich aufgerichtet und überprüft hatte, dass sie Handtasche und Leine fest in Händen hielt, sah sie, dass es sich bei dem Gegenstand um ein Fleischstück handelte. Während des Gerangels war eine klebrige, rötliche Flüssigkeit herausgetropft, auf ihre Hand und Twinkles Schnauze. Gleichzeitig fiel Iris auf, wie ungewöhnlich das Fleischstück war – zäh und ledrig. Ihre erste Regung war, es angewidert loszulassen, aber dann hätte Twinkle doch nur wieder danach geschnappt.
Während der Hund kläffte und sprang und versuchte, seinen Fund wiederzubekommen, griff Iris in die Handtasche, zog das Taschentuch hervor und wischte das Ding ab. Was um alles in der Welt hatte es auf einem Grab zu suchen?