Eine Stunde später war Pendergast zurück in seinem Zuhause, den drei aneinandergrenzenden Wohnungen im Dakota-Gebäude an der Ecke Central Park West und West 72. Street mit Blick auf den Central Park. Minutenlang lief er unruhig durch die zahlreichen Zimmer. Er nahm einen Kunstgegenstand in die Hand und stellte ihn wieder hin, schenkte sich ein Glas Sherry ein, ließ es dann aber auf einem Sideboard stehen. Es kam ihm merkwürdig vor, dass er in letzter Zeit so wenig Vergnügen an den Zerstreuungen fand, die ihm einst so interessant und lohnend erschienen waren. Die Unterredung mit Longstreet hatte ihn aus der Bahn geworfen – auch wenn es im Grunde nicht so sehr das Treffen war, sondern die doch ziemlich aufdringlichen, irritierenden Bemerkungen, mit denen es geendet hatte.
Bei der Erinnerung an den Satz runzelte Pendergast die Stirn. Aufgrund der Chongg-Ran-Übungen wusste er, dass die Gedanken, die man mit besonderer Kraft aus der Erinnerung zu verbannen suchte, diejenigen waren, die sich einem am nachdrücklichsten immer wieder aufdrängten. Der beste Weg, nicht an etwas zu denken, bestand darin, den Gedanken erst zuzulassen und dann Gleichgültigkeit ihm gegenüber zu kultivieren.
Pendergast ging von den öffentlicheren Räumen der Wohnung in die Küche, wo er sich mit seiner taubstummen Haushälterin, Miss Ishimura, kurz in Gebärdensprache über die Speisen zum Abendessen unterhielt. Nach einigem Hin und Her einigten sie sich schließlich auf
Es war über drei Wochen her, dass Pendergasts Mündel Constance – nach einer jähen Erklärung – ihr Zuhause am Riverside Drive 891 verlassen hatte, um bei ihrem kleinen Sohn in einem abgelegenen Kloster in Indien zu leben. In der Zeit nach ihrer Abreise war Pendergast in einen höchst untypischen Gemütszustand verfallen. Doch während die Tage und Wochen verstrichen und die Stimmen, die in seinem Kopf ertönten, eine nach der anderen verstummten, blieb eine Stimme – eine Stimme, die, wie er wusste, das Zentrum seiner seltsamen Unruhe bildete.
Heftig, schlagartig schob er die Stimme von sich weg. »Ich werde diese Schwierigkeit meistern«, murmelte er halblaut vor sich hin.
Er verließ die Küche und begab sich durch den Flur zu einem sehr kleinen, fensterlosen, asketisch möblierten Zimmer, nicht unähnlich einer Mönchszelle. Darin standen lediglich ein schlichter Schreibtisch aus Holz und ein Stuhl mit aufrechter Lehne. Pendergast setzte sich, zog die einzelne Schublade des Schreibtisches auf, entnahm vorsichtig die drei darin befindlichen Gegenstände und legte sie auf die Schreibtischplatte: ein Notizbuch mit festem Einband, eine Gemme und ein Kamm. Einen Augenblick lang saß er still da und betrachtete abwechselnd die Gegenstände.
Das Notizbuch war aus französischer Herstellung, es hatte einen orangefarbenen Einband aus italienischem Kunstleder, die unlinierten Seiten waren aus Clairefontaine-Korrespondenzpapier, das sich ideal für Füllfederhalter eignete. Es handelte sich um das Schreibpapier, das Constance in den vergangenen zwölf Jahren ausschließlich verwendete, nachdem der altehrwürdige englische Lieferant ledergebundener Tagebücher, die sie immer bevorzugt hatte, das Geschäft aufgeben musste. Pendergast hatte das Tagebuch aus Constance’ Privatgemächern im zweiten Untergeschoss unterhalb der Villa. Es handelte sich um den Band mit den neuesten Eintragungen, die sie bei ihrem jähen Aufbruch nach Indien unvollendet gelassen hatte.
Er hatte den Band noch nie aufgeschlagen.
Als Nächstes widmete er sich dem antiken Schildpattkamm und der alten, vornehmen Gemme in einer Fassung aus Achtzehn-Karat-Gelbgold. Die Gemme war, wie er wusste, aus einem kostbaren Sardonyx des
Beide Gegenstände zählten zu den Besitztümern, die Constance am meisten wertschätzte.