»Mein lieber Vincent, es gibt keine andere Möglichkeit, wie sich der Mord abgespielt haben kann! Das gesamte Szenario wurde professionell von einer Person orchestriert, die während der ganzen Zeit ruhig, methodisch und ohne Eile gehandelt hat. Das war kein Profikiller, sondern jemand, der weitaus intelligenter ist.«
D’Agosta zuckte mit den Schultern. Wenn Pendergast abschweifen wollte, dann war das sein gutes Recht – es wäre ja auch nicht das erste Mal. »Lassen Sie mich die Frage noch einmal stellen: Wenn Sie recht haben, was das Handy betrifft, warum hat der Täter Cantucci dann nicht einfach im Bett getötet?«
»Weil sein Ziel nicht einfach nur darin bestand, zu töten.«
»Und was war sein Ziel Ihrer Meinung nach?«
»Das, mein lieber Vincent, ist genau die Frage, die wir zu beantworten haben.«
12
Anton Ozmian nahm sein Frühstück um sechs Uhr morgens in seinem Büro ein – ein Becher Pu-Erh-Biotee, die gerührten Eiweiße zweier frei laufender Indian-Runner-Enten sowie ein 1-Unze-Stück 100-Prozent-Zartbitterschokolade. Die Zutaten dieses Frühstücks hatten sich in zehn Jahren nicht geändert. Ozmian musste im Lauf des Tages schwierige geschäftliche Entscheidungen treffen, zum Ausgleich organisierte er sein übriges Leben so, dass es möglichst frei von Entscheidungen war – beginnend mit dem Frühstück. Er aß allein in seinem großen Büro mit Blick auf den Hudson, der sich im rötlichen Licht der Morgendämmerung dahinwälzte wie eine Straße flüssigen Stahls. Es klopfte leise an der Tür; ein Assistent trug einen Stapel Morgenzeitungen herein, die er auf den Schreibtisch aus Granit legte, ehe er geräuschlos wieder verschwand. Ozmian blätterte in den Zeitungen – das
Die
TOD AUF DER STRASSE
Betrunkene Ozmian-Tochter begeht Fahrerflucht
Von Bryce Harriman
Im Juni vergangenen Jahres überfuhr Grace Ozmian, die kürzlich ermordete und enthauptete Tochter des Dot-com-Moguls Anton Ozmian, einen achtjährigen Jungen mit ihrem BMW X6 Typhoon in Beverly Hills. Sie beging Fahrerflucht und ließ den Jungen sterbend auf der Straße liegen. Ein Augenzeuge merkte sich das Kfz-Kennzeichen, zwei Meilen vom Tatort entfernt wurde sie von der Polizei gestoppt. Ein Bluttest ergab eine Blutalkoholkonzentration von 0,6, das Doppelte des gesetzlichen Höchstwerts.
Ihr Vater, der milliardenschwere CEO von DigiFlood, beauftragte in der Folge ein Team von Anwälten einer der teuersten Kanzleien in LA, Crosbie, Whelan & Poole, mit der Verteidigung der Tochter. Sie wurde lediglich zu 100 Stunden Gemeindearbeit verurteilt, die Prozessunterlagen wurden versiegelt. Die Gemeindearbeit der Tochter bestand darin, in einem Obdachlosenheim in der Innenstadt von Los Angeles zwei Vormittage in der Woche Toasts mit Butter zu bestreichen und Pfannkuchen zu servieren …
Während Ozmian den Artikel las, von der ersten bis zur letzten Zeile, wurden seine Hände zittrig. Bald zitterten sie so heftig, dass er die Zeitung auf den Schreibtisch zurücklegen musste, um den Artikel zu Ende lesen zu können. Als er ihn durchhatte, erhob er sich, griff nach dem Glasbecher mit Tee und warf ihn, einen Schrei sprachloser Wut ausstoßend, durch das Zimmer, mitten auf ein Jasper-Johns-Gemälde, das die US-amerikanische Flagge darstellte. Der Glasbecher zersprang, schnitt durch die Leinwand und hinterließ einen braunen Fleck darauf.
Es klopfte an der Tür, dringlich. »Draußen bleiben!«, schrie Ozmian. Dabei ließ er seinen Blick durch das Zimmer schweifen, griff nach einem ein Kilo schweren Nickel-Eisen-Meteoriten und warf diesen auf das Bild von Johns. Die Leinwand riss, der Rahmen brach, das Bild fiel von der Wand. Schließlich packte Ozmian eine kleine bronzene Skulptur von Brancusi und versetzte dem zerbrochenen Gemälde, das jetzt auf dem Boden lag, mehrere wüste Hiebe, womit er die Zerstörung vollendete.
Schwer atmend hielt er inne und ließ die Brancusi-Skulptur auf den Teppich fallen. Die Vernichtung des Bildes, das Ozmian bei Christie’s für 21 Millionen Dollar ersteigert hatte, führte dazu, dass er seiner Wut leichter Herr wurde. Er stand reglos da, regulierte seine Atmung, wartete darauf, dass die Wirkung der Kampf-oder-Flucht-Hormone nachließ und sein Herzschlag sich wieder beruhigte. Als er den Eindruck hatte, dass er wieder in einem körperlich stabilen Zustand war, ging er zurück zum Granitschreibtisch und las den Artikel aus der