Baldwin Day zog die externe Festplatte mit fünf Terabyte Kapazität aus seinem Desktopcomputer und steckte sie für die kurze Fahrt in die oberste Etage des Seaside-Financial Center-Gebäudes nahe dem Battery Park in seine Aktentasche. Diese Fahrt machte er einmal täglich; auf ihr führte er jene Daten mit sich, die das Unternehmen, LFX Financial, auf dem Highway des Profits und noch mehr Profits entlangrasen ließ. Auf der Festplatte befanden sich die Namen und persönlichen Daten der Zigtausenden von Menschen, welche die Recherchen seines Daten-Marketing-Teams als potenzielle Kontaktpersonen beziehungsweise »Colonels« ausgegraben hatten, wie man diese Leute im Labyrinth des Callcenters nannte, das drei Stockwerke des Seaside-Komplexes einnahm. Bei diesen Kontaktpersonen handelte es sich überwiegend um pensionierte Kriegsveteranen und die Ehefrauen von Soldaten im aktiven Dienst. Am kostbarsten von allen »Colonels« waren die Witwen von Veteranen, die Häuser mit abbezahlten Hypotheken besaßen. Jeden Tag um Punkt 16 Uhr lieferte Day seine Festplatte im Büro des Vorstands im obersten Stock ab, wo das Gründerpaar des Unternehmens, Gwen und Rod Burch, seine Büros hatte. Die Burches gingen dann die Listen mit den Kontaktpersonen durch, wobei sie einen untrüglichen Riecher hatten, die geeignetsten aus der Riesenmenge an Daten herauszufiltern. Anschließend reichten sie die redigierten und mit Anmerkungen versehenen Listen an die Drückerkolonnen von LFX Financial weiter, die sich daraufhin an die Arbeit machten und Tausende »Colonels« anriefen und versuchten, sie als »Kunden« zu gewinnen, auch wenn das angemessenere Wort, wie Day fand, vermutlich
Fast im selben Augenblick, als Day hinter das Geschäftsmodell des Unternehmens gekommen war, hatte er sich nach einer anderen Stelle umgesehen. Er wollte auf Teufel komm raus weg von LFX, nicht weil er unterbezahlt oder überarbeitet wäre – in dieser Hinsicht konnte er nicht klagen –, sondern wegen der Art von Abzocke, die man dort betrieb. Als er bei LFX als Teamleiter in der hochtrabend genannten Abteilung für Analytik arbeitete und ihm klar wurde, was sich dort abspielte, war er entsetzt. Es gehörte sich einfach nicht.
Natürlich bestand darüber hinaus immer auch die Gefahr, dass die Behörden ein deutlicheres Interesse an den Betrügereien bei LFX zeigten. Denn schließlich waren es die
Derlei Gedanken gingen ihm durch den Kopf, als er den überfüllten Aufzug betrat, seine Security-Karte gegen das Lesegerät hielt und den Knopf für die oberste Etage drückte. Seit ein entlassener Soldat, der unter einem schweren Hirnschaden litt, der von einer Tretmine im Irak verursacht worden war, mit einer Handfeuerwaffe in die Lobby gestürmt war und drei Personen angeschossen und verletzt hatte, ehe er sich selbst richtete, war die Security superstreng in dem Unternehmen. Der Name des Soldaten hatte auf einer dieser Listen gestanden, die Day ungefähr ein Vierteljahr vor dem Vorfall nach oben geschickt hatte. So lange dauerte es nämlich, bis LFX dem Mann das Haus weggenommen hatte – drei kurze Monate. Nach den Schüssen änderte sich hinsichtlich der Praktiken und Anreizmodelle bei LFX gar nichts, nur dass ein fanatisches Sicherheitssystem implementiert wurde und ein Gefühl von Paranoia in der Luft lag. Ein Teil dieses Sicherheitssystems bestand in der Isolierung und Abschirmung der Computernetzwerke, was auch der Grund dafür war, warum Day die Daten jetzt auf die altmodische Weise in die Vorstandsetage übermitteln musste: indem er sie persönlich hinaufbrachte.
Die Aufzugtüren öffneten sich zu der vornehmen Lobby im obersten Stock des Seaside-Gebäudes. Die Burches legten Wert auf übertriebene Opulenz. Wandvertäfelungen aus dunklen Edelhölzern, Goldblatt, Pseudomarmor, dicke Teppiche und falsche alte Meister an den Wänden. Day durchquerte die Lobby, nickte den Empfangsdamen zu und tippte mit seiner Karte gegen das Lesegerät neben der Tür. Auf die Eingabeaufforderung hin drückte er den Finger auf einen Fingerabdruck-Scanner, die Holztür schwang auf, die Vorstandsetage kam zum Vorschein. Überall das geschäftige Kommen und Gehen von Sekretärinnen und Assistentinnen. Jetzt war die hektischste Zeit bei LFX Financial, denn gerade kamen die Verträge herein, die die Drückerkolonnen abgeschlossen hatten.
Lächelnd nickte Day den verschiedenen Sekretärinnen und Assistentinnen zu, denen er auf seinem Weg zum Büro der Burches begegnete.
Unmittelbar vor der Tür meldete er sich bei Iris an, der Direktionssekretärin. Iris war ein zäher alter Vogel, nüchtern und sachlich, aber »eine Seele von Mensch«, wie man so sagte. Jeder, der es überlebte, so eng mit den Burches zusammenzuarbeiten, musste ebenso kompetent wie hart im Nehmen sein.
»Ich glaube, die Burches sind in einer Besprechung«, erklärte sie. »Zumindest ist Roland vor ein paar Minuten herausgekommen.«