Er würde sich diesen Scheiß nicht gefallen lassen. Es war an der Zeit, noch etwas tiefer zu graben – und zwar diesmal in Anton Ozmians Vergangenheit. Und schon bald, dessen war er sich sicher, hätte er genügend Schmutz aus Ozmians Vergangenheit ausgegraben, um den Spieß umdrehen und dieses abgekartete Spiel beenden zu können. Und wer weiß? Möglicherweise konnte die Story ja die Aufmerksamkeit von seinen eigenen Problemen mit der verstorbenen Heiligen der Vereinten Nationen ablenken.
Mit einem Mal erfüllte ihn eine neu erwachte Zielstrebigkeit. Harriman sprang vom Sofa auf und lief zu seinem Laptop.
38
Als D’Agosta durch den Eingang an der Second Avenue die nigerianische Botschaft bei den Vereinten Nationen betrat, fiel ihm sofort die düstere Atmosphäre in der Eingangshalle auf. Das hatte jedoch nichts mit den Absperrungen vor dem Gebäude zu tun, auch nicht mit der starken, durch nigerianische Sicherheitskräfte ergänzten Präsenz des NYPD. Sondern vielmehr mit den schwarzen Armbinden, die praktisch alle Leute in Sichtweite trugen; mit den verloren wirkenden, niedergeschlagenen Gesichtern, an denen er vorbeiging; mit den kleinen Grüppchen, die sich in betrübtem Ton unterhielten. Es schien, als habe man dem Gebäude das Herz herausgerissen. Was ja auch der Fall war, denn Nigeria hatte kurz zuvor Dr. Wansie Adeyemi, seine vielversprechendste Politikerin und frischgekürte Nobelpreisträgerin, an den Enthaupter verloren.
Und doch konnte, wie D’Agosta wusste, Dr. Adeyemi nicht so heilig sein, wie man es den Leuten weismachen wollte. Es passte einfach nicht zu der Theorie, an die er glaubte und die auch von der Task Force des NYPD begeistert vertreten wurde. Irgendwo im Leben der Dame würde er die grausame und schmutzige Vergangenheit finden, über die der Mörder Bescheid gewusst hatte. Früher am Nachmittag hatte er Pendergast angerufen und war mit ihm verschiedene Wege durchgegangen, wie man den »rauchenden Colt« finden konnte, der doch irgendwo in der Vergangenheit der Frau versteckt sein musste. Pendergast hatte schließlich vorgeschlagen, ein Gespräch mit jemandem von der nigerianischen Vertretung zu vereinbaren, der mit Dr. Adeyemi gut bekannt gewesen war, und angeboten, alles zu arrangieren.
D’Agosta und Pendergast gingen durch mehrere Sicherheitsschleusen und zeigten mehrmals ihre Ausweise, bis sie schließlich im Büro des nigerianischen diplomatischen Geschäftsträgers standen. Dieser wusste von ihrem Kommen und führte sie trotz der Menschen, die überall herumliefen, und des schweren Mantels der Tragödie, der über allem lag, persönlich den Flur entlang zu einer unscheinbaren Tür mit dem Schild OBAJE, F. Er öffnete die Tür – und zum Vorschein kam ein kleines, gepflegtes Büro mit einem ebenso gepflegten Mann hinter einem tadellos aufgeräumten Schreibtisch. Der Mann war klein und drahtig und hatte kurz geschnittenes Haar.
»Mr. Obaje«, sagte der Chargé d’affaires mit ausdrucksloser Stimme, »das hier sind die Herren, deren Kommen ich Ihnen angekündigt habe. Special Agent Pendergast vom FBI und Lieutenant D’Agosta von der New Yorker Polizei.«
Der Mann erhob sich hinter seinem Schreibtisch. »Natürlich.«
»Vielen Dank«, sagte der Chargé d’affairs. Er nickte erst Pendergast und dann D’Agosta zu und verließ das Büro mit der Ausstrahlung eines Mannes, der soeben einen Familienangehörigen verloren hatte.
Der Mann hinter dem Schreibtisch schaute seine beiden Gäste an. »Ich bin Fenuku Obaje, Verwaltungsassistent in der ständigen Vertretung Nigerias bei der UN.«
»Wir wissen es außerordentlich zu schätzen, dass Sie sich in dieser tragischen Zeit einen Augenblick Zeit nehmen, um mit uns zu sprechen«, sagte Pendergast.
Obaje nickte. »Bitte nehmen Sie Platz.«
Pendergast setzte sich, D’Agosta folgte seinem Beispiel.
»Zunächst«, sagte Pendergast, »möchte ich Ihnen unser tiefstes Beileid aussprechen. Dr. Adeyemis Tod stellt einen schrecklichen Verlust dar, nicht nur für Nigeria, sondern für alle friedliebenden Menschen und Völker.«
Obaje machte eine Geste des Dankes.
»Wenn ich recht informiert bin, haben Sie Dr. Adeyemi gut gekannt«, fuhr Pendergast fort.
Wieder nickte Obaje. »Wir sind quasi zusammen aufgewachsen.«
»Ausgezeichnet. Mein Kollege, Lieutenant D’Agosta, möchte Ihnen lediglich einige Fragen stellen.« Und damit drehte sich Pendergast demonstrativ zu D’Agosta um.
D’Agosta begriff sofort: Pendergast platzte vor Ungeduld, er wollte den Lack der Heiligkeit abkratzen und an die schmutzigen Details in Adeyemis Vergangenheit herankommen. Freundlicherweise überließ er ihm die Führung dabei. Der Ball war in seinem Feld. Er verlagerte das Gewicht auf seinem Stuhl.