»Goldmund«, flüsterte ihm der Freund ms Ohr, »verzeih, dass ich es dir nicht früher habe sagen können. Ich hätte es dir sagen sollen, als ich dich damals in deinem Gefängnis aufsuchte, in der Bischofsresidenz, oder als ich deine ersten Figuren zu sehen bekam, oder irgendeinmal. Lass es mich dir heute sagen, wie sehr ich dich liebe, wieviel du mir immer gewesen bist, wie reich du mein Leben gemacht hast. Es wird dir nicht sehr viel bedeuten. Du bist an Liebe gewohnt, sie ist für dich nichts Seltenes, du bist von so vielen Frauen geliebt und verwöhnt worden. Für mich ist es anders. Mein Leben ist arm an Liebe gewesen, es hat mir am Besten gefehlt. Unser Abt Daniel sagte mir einst, dass er mich für hochmütig halte, wahrscheinlich hat er recht gehabt. Ich bin nicht ungerecht gegen die Menschen, ich gebe mir Mühe, gerecht und geduldig mit ihnen zu sein, aber geliebt habe ich sie nie. Von zwei Gelehrten im Kloster ist der Gelehrtere mir lieber, nie habe ich etwa einen schwachen Gelehrten trotz seiner Schwäche liebgehabt. Wenn ich trotzdem weiß, was Liebe ist, so ist es deinetwegen. Dich habe ich lieben können, dich allein unter den Menschen. Du kannst nicht ermessen, was das bedeutet. Es bedeutet den Quell in einer Wüste, den blühenden Baum in einer Wildnis. Dir allein danke ich es, dass mein Herz nicht verdorrt ist, dass eine Stelle in mir blieb, die von der Gnade erreicht werden kann.«
Goldmund lächelte froh und etwas verlegen. Mit der leisen ruhigen Stimme, die er in seinen klaren Stunden hatte, sagte er: »Als du mich damals vom Galgen befreit hattest und wir heimritten, fragte ich dich nach meinem Pferde Bless, und du gabst mir Auskunft. Damals sah ich, dass du, der du sonst Pferde kaum auseinanderkennst, dich um das Rösschen Bless bekümmert hattest Ich verstand, dass du es meinetwegen getan hattest, und war sehr froh darüber. Jetzt sehe ich, dass es wirklich so war und dass du mich wirklich liebhast. Auch ich habe dich immer liebgehabt, Narziss, die Hälfte meines Lebens ist ein Werben um dich gewesen. Ich wusste, dass auch du mich gern hattest, aber nie hatte ich gehoft, dass du es mir einmal sagen würdest, du stolzer Mensch. Jetzt hast du es mir gesagt, in diesem Augenblick, wo ich nichts anderes mehr habe, wo Wanderschaft und Freiheit, Welt und Weiber mich im Stich gelassen haben. Ich nehme es an, ich danke dir dafür.«
Die Lydia-Madonna stand in der Kammer und sah zu. »Du denkst immer ans Sterben?« fragte Narziss.
»Ja, ich denke daran und an das, was aus meinem Leben geworden ist. Als Jüngling, als ich noch dein Schüler war, hatte ich den Wunsch, ein so geistiger Mensch zu werden wie du. Du hast mir gezeigt, dass ich nicht dazu berufen war. Dann warf ich mich auf die andere Seite des Lebens, auf die Sinne, und die Frauen haben es mir leichtgemacht, dort meine Lust zu finden, sie sind so willig und gierig. Doch möchte ich ja nicht verächtlich von ihnen sprechen und auch nicht von der Sinnenlust, ich bin oft sehr glücklich gewesen. Und ich habe auch das Glück gehabt zu erleben, dass die Sinnlichkeit beseelt werden kann. Daraus entsteht die Kunst. Jetzt aber sind beide Flammen erloschen. Ich habe das tierische Glück der Wollust nicht mehr – und ich hatte es auch nicht, wenn die Frauen mir noch heute nachliefen. Und Kunstwerke zu schaffen, ist auch nicht mehr mein Wunsch, ich habe genug Figuren gemacht, es kommt auf die Zahl nicht an. Darum ist es für mich Zeit zu sterben. Ich bin willig dazu und bin neugierig darauf.«
»Warum neugierig?« fragte Narziss.
»Nun, es ist wohl etwas dumm von mir. Aber ich bin wirklich neugierig darauf. Nicht auf das Jenseits, Narziss, darüber mache ich nur wenig Gedanken, und wenn ich es offen sagen darf, ich glaube nicht mehr daran. Es gibt kein Jenseits. Der verdorrte Baum ist tot für immer, der erfrorene Vogel kommt nie wieder zum Leben und ebensowenig der Mensch, wenn er gestorben ist. Man mag noch eine Weile an ihn denken, wenn er fort ist, aber auch das dauert ja nicht lange. Nein, neugierig auf das Sterben bin ich nur darum, weil es noch immer mein Glaube oder mein Traum ist, dass ich unterwegs zu meiner Mutter bin. Ich hoffe, der Tod werde ein großes Glück sein, ein Glück, so groß wie das der ersten Liebeserfüllung. Ich kann mich von dem Gedanken nicht trennen, dass statt des Todes mit der Sense es meine Mutter sein wird, die mich wieder zu sich nimmt und in das Nichtsein und in die Unschuld zurückführt.«
Bei einem seiner letzten Besuche, nachdem Goldmund mehrere Tage nichts mehr gesprochen hatte, fand Narziss ihn wieder wach und gesprächig.
»Der Pater Anton meint, du müssest oft große Schmerzen haben. Wie machst du es, Goldmund, dass du sie so ruhig erträgst? Mir scheint, du habest jetzt den Frieden gefunden.«