Für den Bruchteil einer Sekunde hatte Roger das Gefühl, als hätte eine Vakuumpumpe jede Luft aus dem Zimmer gesaugt und alles erstarren lassen. Fraser sah ihn ausdruckslos an. Dann nickte er, setzte wie von Zauberhand seine freundlich interessierte Miene wieder auf, und die Zeit setzte sich wieder in Bewegung.
»Aye, an Tom Christie kann ich mich gut erinnern. Wo hat er denn die letzten zwanzig Jahre gesteckt?«
Roger wiederholte Tom Christies Beschreibung seiner Wanderungen und erklärte ihm, welche Vereinbarungen bezüglich seiner Pacht getroffen worden waren.
»Das ist eine sehr gute Regelung«, sagte Jamie beifällig, als er hörte, dass Christie bereit war, sich als Schulmeister zu betätigen. »Sag ihm, dass er sämtliche Bücher benutzen kann, die wir hier haben – und er soll eine Liste der Bücher aufstellen, die er sonst noch braucht. Ich werde Fergus sagen, er soll sich danach umsehen, wenn er das nächste Mal in Wilmington ist.«
Das Gespräch ging zu alltäglicheren Dingen über, und ein paar Minuten später stand Roger auf, um zu gehen.
Alles schien in bester Ordnung zu sein, und doch empfand er diese obskure Beklommenheit. Er hatte sich diesen Moment doch nicht eingebildet? Als er sich umdrehte, um die Tür hinter sich zu schließen, sah er, dass Jamie die Hände ordentlich auf seiner Brust gefaltet und die Augen geschlossen hatte; wenn er auch noch nicht schlief, so verbat er sich doch jede Unterhaltung. Claire hatte den Blick auf ihren Mann gerichtet und ihre gelben Falkenaugen spekulativ zusammengekniffen. Nein, sie hatte es auch gesehen.
Also hatte er es sich nicht eingebildet. Was in aller Welt war los mit Tom Christie?
Kapitel 95
Mittsommer Dämmerlicht
Am nächsten Tag schloss Roger hinter sich die Tür und blieb eine Minute auf der Veranda stehen, um die kalte, klare Luft des späten Morgens einzuatmen – spät, lieber Gott, es konnte nicht später als halb sieben sein, doch es war um einiges später, als er gewöhnlich den Tag begann. Die Sonne war bereits in die Kastanien auf dem höchsten Bergkamm gestiegen, und ihr Umriss leuchtete als flammende Scheibe durch die letzten, gelben Blätter.
Es lag immer noch ein Hauch von Blut in der Luft, auch wenn keine Spur mehr von dem Büffel übrig war, abgesehen von einer dunklen Stelle in den flach gedrückten Kürbisranken. Er sah sich um und führte seine Bestandsaufnahme durch, indem er im Geiste seine Aufgaben für den heutigen Tag auflistete. Auf dem herbstlich schäbigen Hof scharrten die Hühner, und im Kastanienhain hörte er eine kleine Schweineherde nach Futter wühlen.
Er hatte das seltsame Gefühl, nicht vor wenigen Tagen, sondern vor Monaten, ja, Jahren zuletzt auf dem Hof Hand angelegt zu haben. Das Gefühl der Orientierungslosigkeit – das anfangs so stark gewesen war – war eigentlich seit langem von ihm gewichen, doch jetzt war es wieder da, stärker als je zuvor. Wenn er einen Moment die Augen schloss und sie dann wieder öffnete, würde er sich doch mit Sicherheit auf der Broad Street in Oxford wiederfinden, die Nase voller Autoabgase, in Erwartung eines Morgens, den er friedlich büffelnd zwischen den verstaubten Büchern der Bodleian-Bibliothek verbringen würde.
Er klatschte sich mit der Hand auf den Oberschenkel, um das Gefühl zu vertreiben. Nicht heute. Dies war Fraser’s Ridge, nicht Oxford, und seine Aufgaben mochten zwar friedlich sein, doch er würde sie mit den Händen verrichten, nicht mit dem Kopf. Er musste Bäume ringeln und Heu ernten; kein Feldheu, sondern das wilde Heu, das in kleinen Flecken auf den Hügeln verstreut wuchs, die hier und dort einen Arm voll hergaben – genug, um eine zusätzliche Kuh über den Winter zu bringen.
Ein Loch, das ein herabfallender Ast in das Dach des Räucherschuppens gerissen hatte. Das Dach musste geflickt und mit neuen Schindeln versehen, der Ast zu Brennholz zerhackt werden. Es musste ein Loch für einen neuen Abort gegraben werden, bevor der Boden gefror oder sich in Schlamm verwandelte. Flachs musste gehäckselt werden. Zaunbretter abgespalten werden. Lizzies Spinnrad repariert werden …
Er fühlte sich zerschlagen und dumpf, zu keiner einzigen Entscheidung fähig, von komplexen Gedankengängen ganz zu schweigen. Er hatte genug geschlafen – mehr als genug –, um sich körperlich von der Erschöpfung der letzten paar Tage zu erholen, doch die Ankunft von Thomas Christie und seiner Familie so unmittelbar nach Jamies dramatischem Heimtransport hatte ihm jede geistige Energie geraubt.
Er warf einen Blick zum Himmel; eine Reihe von Federwolken breitete sich tief über den Horizont. Es würde vorerst nicht regnen, das Dach konnte warten. Er zuckte mit den Achseln und kratzte sich am Kopf. Also Heu und Bäume ringeln. Er packte eine Steingutflasche mit Ale und das Sandwichpaket, das Brianna ihm gemacht hatte, in seine Tasche und holte die Handsichel und das Beil.