Ich spürte, wie mir die Trauer die Kehle zuschnürte, Trauer um den Mann, dessen Knochen jetzt zu meinen Füßen lagen, den Freund und Kollegen, dessen Instrumente ich geerbt hatte, dessen Schatten an meiner Seite gestanden und mir Mut und Trost gespendet hatte, wenn ich den Kranken die Hände auflegte, um ihnen Heilung zu bringen.
»Was für eine Vergeudung«, sagte ich leise und blickte zu Boden.
Jamie ließ den Sargdeckel sanft sinken, als läge jemand in dem Sarg, dessen Ruhe gestört worden war.
Jocasta stand draußen reglos auf dem Pfad. Sie hatte einen Arm um Phaedre gelegt, die jetzt aufgehört hatte zu jammern, doch es war fraglich, welche der beiden Frauen die andere stützte. Jocasta musste hören, dass wir da waren, doch sie stand immer noch dem Fluss zugewandt und starrte vor sich hin, ohne im Fackelschein zu blinzeln.
Ich räusperte mich und zog mit der freien Hand mein Schultertuch fester um mich.
»Was machen wir denn jetzt?«, fragte ich Jamie.
Er drehte sich um und blickte kurz in die Kammer zurück, dann zuckte er kaum merklich mit den Achseln.
»Den Leutnant überlassen wir Hector, wie geplant. Was den Doktor angeht …« Er holte langsam Luft, die Augen erschüttert auf die feinen Knochen gerichtet, die elegant ausgefächert am Boden lagen, bleich und reglos im Schein der Fackel. Die Hand eines Chirurgen – damals.
»Ich denke«, sagte er, »wir nehmen ihn mit heim – nach Fraser’s Ridge. Dort kann er unter Freunden ruhen.«
Er strich an den beiden Frauen vorbei, ohne sie zu beachten oder sich zu entschuldigen, und ging davon, um Leutnant Wolff zu holen.
Kapitel 105
Der Traum der Drossel
Die Nachtluft war kühl und frisch. So früh im Jahr hatte die Saison der blutdürstigen Fliegen und Moskitos noch nicht begonnen; nur dann und wann kam eine verirrte Motte zum offenen Fenster herein, umflatterte das abgedeckte Feuer wie ein Stück brennendes Papier und strich in kurzer Liebkosung an ihren ausgestreckten Gliedmaßen vorbei.
Sie lag da, wie sie sich hatte fallen lassen, auf ihm, und das Herz schlug ihr laut und langsam in den Ohren. Von hier aus konnte sie zum Fenster hinaussehen; sie erkannte die gezackte schwarze Baumreihe am anderen Ende des Hofes und dahinter ein Stück Himmel, der von Sternen erleuchtet war, so nah und hell, dass es beinahe möglich schien, sie zu beschreiten und vom einen zum anderen zu wandern, höher und höher bis hinauf zum Haken des Sichelmondes.
»Du bist nicht sauer auf mich?«, flüsterte er. Es fiel ihm jetzt leichter zu sprechen, doch da sie mit dem Ohr auf seiner Brust lag, konnte sie den leisen Bruch in seiner Stimme hören, die Stelle, an der er die Luft mit Gewalt durch seine vernarbte Kehle zwang, um die Wörter zu bilden.
»Nein.« Seine Hand streichelte über ihr Haar. »Ich habe dir schließlich nie gesagt, dass du es nicht lesen sollst.«
Seine Finger berührten sacht ihre Schulter, und ihre Zehen rollten sich genussvoll ein. Machte es ihr etwas aus? Nein. Wahrscheinlich hätte sie sich irgendwie entblößt vorkommen sollen, weil er die Privatsphäre ihrer Gedanken und Träume enthüllt hatte – doch sie vertraute ihm. Er würde diese Dinge nie gegen sie verwenden.
Außerdem verwandelten sich die Träume in etwas, das separat von ihr existierte, sobald sie sie zu Papier brachte. Ganz ähnlich wie die Zeichnungen, die sie machte; ein Spiegelbild einer Facette ihrer Gedanken, ein kurzer Einblick in etwas, das sie einmal gesehen, gedacht, empfunden hatte – doch nicht dasselbe wie der Verstand oder das Herz, das sie anfertigte. Nicht ganz.
»Aber wie du mir, so ich dir.« Ihr Kinn ruhte in der Mulde seiner Schulter. Er roch gut, bitter, nach dem Moschus seines gestillten Verlangens. »Also, erzähl mir einen von deinen Träumen.«
Ein Lachen vibrierte fast geräuschlos in seiner Brust, doch sie spürte es.
»Nur einen?«
»Ja, aber es muss ein wichtiger sein. Kein Traum vom Fliegen, keiner, in dem du von einem Monster gejagt wirst, und keiner von denen, in denen du ohne Kleider in die Schule gehst. Keiner von denen, die jeder träumt – einen, den nur
Mit der einen Hand kratzte sie ihm sanft über die Brust, so dass sich seine dunklen, gelockten Haare zuckend aufstellten. Die andere lag unter dem Kissen; wenn sie ihre Finger vorsichtig bewegte, konnte sie die glatten Umrisse des kleinen Weibleins spüren, wie er es nannte. Sie konnte sich vorstellen, wie ihr eigener Bauch anschwoll, rund und hart. Sie konnte das sanfte Anspannen und Entkrampfen in ihrem Unterleib spüren; Nachbeben ihres Höhepunktes. Würde es diesmal geschehen?
Er verdrehte den Kopf auf dem Kissen und überlegte. Seine langen Wimpern lagen auf seiner Wange, so schwarz wie die Umrisse der Bäume im Freien. Dann drehte er sich zurück, hob seine Lider, und seine Augen hatten die Farbe des Mooses, sanft und lebhaft im Schattenlicht.