Jederzeit. Es konnte jederzeit geschehen, und just so schnell. Ich war mir nicht sicher, was mir unwirklicher vorkam: der Angriff des Bären oder das hier, diese sanfte, verheißungsvolle Sommernacht.
Ich legte den Kopf auf die Knie und ließ die Übelkeit, die Nachwirkungen des Schocks vorübergehen. Es spielte keine Rolle, redete ich mir ein. Nicht nur jederzeit, sondern auch überall. Krankheit, Autounfall, verirrte Kugel. Es gab kein Entkommen, doch wie die meisten anderen Menschen schaffte ich es, die meiste Zeit nicht darüber nachzudenken.
Ich erschauerte, als ich an die Krallenspuren auf Jamies Rücken dachte. Hätte er langsamer reagiert, oder wäre er schwächer gewesen … wären die Wunden auch nur etwas tiefer gegangen … Was das betraf, so stellte eine Infektion immer noch eine große Bedrohung dar. Doch diese Gefahr konnte ich wenigstens bekämpfen.
Der Gedanke brachte mich in die Realität zurück, zu den zerdrückten Blättern und Wurzeln, die kühl und feucht in meiner Hand lagen. Ich spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht und machte mich hügelaufwärts auf den Weg zum Lagerfeuer. Es ging mir etwas besser.
Durch eine durchlässige Wand von Schösslingen sah ich Jamie aufrecht dasitzen. Seine Gestalt zeichnete sich wie ein Scherenschnitt vor dem Feuer ab. Er saß kerzengerade da, was schmerzhaft sein musste, wenn man seine Verletzungen bedachte.
Gerade als ich argwöhnisch stehen blieb, sprach er mich an.
»Claire?« Er drehte sich nicht um, und seine Stimme war ruhig. Er wartete meine Antwort nicht ab, sondern sprach mit kühler, fester Stimme weiter.
»Komm hinter mich, Sassenach, und leg dein Messer in meine linke Hand. Dann bleib hinter mir.«
Mit klopfendem Herzen tat ich die drei Schritte hügelaufwärts, die mir noch fehlten, damit ich ihm über die Schulter blicken konnte. Auf der anderen Seite der Lichtung, gerade eben im Licht des Feuers, standen drei schwerbewaffnete Indianer. Offenbar war der Bär wirklich provoziert worden.
Die Indianer betrachteten uns mit lebhaftem Interesse, das wir mehr als erwiderten. Sie waren zu dritt, ein älterer Mann, dessen federngeschmückter Haarschopf reichlich graue Strähnen enthielt, und zwei jüngere, vielleicht in den Zwanzigern. Vater und Söhne, dachte ich – sie ähnelten einander, wenn auch mehr im Körperbau als im Gesicht: Sie waren alle drei relativ klein und hatten breite Schultern, O-Beine und lange, kraftvolle Arme.
Ich beäugte verstohlen ihre Waffen. Der ältere Mann hielt ein Gewehr in der Armbeuge, eine uralte französische Radschlossflinte, deren sechseckiger Lauf mit Rost verkrustet war. Es sah aus, als würde sie ihm um die Ohren fliegen, wenn er sie abfeuerte, doch ich hoffte, er würde es gar nicht erst versuchen.
Einer der jüngeren hielt einen Bogen in der Hand und hatte lässig einen Pfeil aufgelegt. Alle drei trugen unheimlich aussehende Tomahawks und Häutemesser in ihren Gürteln. Obgleich er so lang war, erschien Jamies Dolch im Vergleich dazu reichlich inadäquat.
Da er offensichtlich zu demselben Schluss kam, beugte er sich vor und legte den Dolch vorsichtig neben seine Füße. Er setzte sich wieder aufrecht hin, breitete seine leeren Hände aus und zuckte mit den Achseln.
Die Indianer kicherten. Es klang derart unkriegerisch, dass ich halb lächeln musste, obwohl mein Magen, der sich nicht so leicht entwaffnen ließ, sich noch vor Anspannung verkrampfte.
Ich sah, wie sich Jamies Schultern entspannten, und wurde nun meinerseits etwas ruhiger.
Die Indianer kicherten erneut und warfen einander schüchterne Blicke zu. Der ältere Mann trat zögernd einen Schritt vor und neigte den Kopf, was die Perlen in seinem Haar in Schwingung versetzte.
»Kein … Franz«, sagte er.
»Englisch?«, fragte ich hoffnungsvoll. Er sah mich mit Interesse an, schüttelte aber den Kopf. Er warf einem seiner Söhne über die Schulter hinweg eine Bemerkung zu. Der Sohn antwortete in derselben unverständlichen Sprache. Der ältere Mann wandte sich wieder an Jamie und stellte ihm eine Frage, die er mit hochgezogenen Augenbrauen unterstrich.
Jamie schüttelte verständnislos den Kopf, und einer der jungen Männer trat in den Schein des Feuers. Er beugte die Knie und ließ die Schultern hängen, streckte den Kopf vor und begann, in derart perfekter Bärenweise zu schwanken und kurzsichtig zu blinzeln, dass Jamie laut auflachte. Die anderen Indianer grinsten.
Der junge Mann richtete sich auf und deutete mit einem fragenden Laut auf Jamies blutgetränkten Hemdsärmel.
»Oh, aye, er ist da drüben«, sagte Jamie und wies auf das Dunkel unter den Bäumen.
Ohne weitere Umschweife verschwanden alle drei Männer in der Dunkelheit, von wo bald aufgeregtes Rufen und Gemurmel erklang.
»Es ist in Ordnung, Sassenach«, sagte Jamie. »Sie werden uns nichts tun. Es sind nur Jäger.« Er schloss kurz die Augen, und ich sah den leichten Schweißfilm auf seinem Gesicht. »Das ist auch gut so, weil ich glaube, dass ich jetzt in Ohnmacht falle.«