Ich hatte in der Woche zuvor das Glück gehabt, vier große Ginsengwurzeln zu finden. Ich holte alle vier aus meiner Medizinkiste und drückte sie ihr lächelnd in die Hand. Sie blickte mich an, grinste dann, band den Stoffbeutel von ihrem Gürtel los und reichte ihn mir. Ich brauchte ihn gar nicht zu öffnen; ich konnte die vier langen, knotigen Gegenstände durch den Stoff fühlen.
Ich lachte zurück; ja, wir sprachen definitiv dieselbe Sprache.
Von Neugier und einem Impuls getrieben, den ich nicht beschreiben konnte, fragte ich Gabrielle nach dem Amulett der alten Dame, wobei ich hoffte, dass dies keine unverzeihliche Verletzung der Etikette bedeutete.
»Wir sagen, sie ist eine Sängerin«, warf Berthe schüchtern auf Französisch ein. »Wir nennen sie Schamanin, und ihr Name bedeutet ›Es mag sein, es wird geschehen‹.«
Die Alte sagte etwas und nickte mir dabei zu, und die beiden Frauen machten ein etwas erschrockenes Gesicht. Nayawenne senkte den Kopf, nahm den kleinen Beutel ab und legte ihn mir in die Hand.
Er war so schwer, dass mein Handgelenk nachgab und ich ihn beinahe fallen ließ. Erstaunt schloss ich meine Finger darum. Das abgetragene Leder war von ihrem Körper erwärmt, und die runde Form schmiegte sich glatt in meine Hand. Einen kurzen Augenblick lang hatte ich das bemerkenswerte Gefühl, dass in dem Beutel etwas lebendig war.
Mein Gesicht muss mein Unbehagen angezeigt haben, denn die Alte krümmte sich vor Lachen. Sie hielt mir die Hand hin, und ich gab ihr das Amulett mit beträchtlicher Hast zurück. Gabrielle eröffnete mir höflich, dass es der Großmutter ihres Mannes ein Vergnügen wäre, mir die nützlichen Pflanzen zu zeigen, die hier wuchsen, wenn ich mit ihr einen Spaziergang unternehmen wolle.
Ich nahm diese Einladung begierig an, und die Alte machte sich mit einer Sicherheit und einem Tempo auf den Weg, die ihr Alter Lügen straften. Ich beobachtete ihre winzigen Füße in den weichen Lederschuhen und hoffte, dass ich in ihrem Alter auch noch in der Lage sein würde, zwei Tage durch die Wälder zu marschieren und dann noch einen Erkundungsgang unternehmen zu wollen.
Wir wanderten ein Stück am Bach entlang, in respektvoller Entfernung von Gabrielle und Berthe gefolgt, die nur zu uns aufschlossen, wenn wir sie zum Übersetzen riefen.
»Jede Pflanze trägt in sich das Heilmittel für eine Krankheit«, erklärte die Alte durch Gabrielle. Sie pflückte einen Zweig und reichte ihn mir mit einem ironischen Blick. »Wenn wir sie nur alle kennen würden!«
Großenteils kamen wir ganz gut mit Gesten zurecht, doch als wir das große Wasserbecken erreichten, in dem Jamie und Ian oft Forellen angelten, blieb Nayawenne stehen und winkte Gabrielle wieder herbei. Sie sagte etwas zu der Frau, die mich mit leicht überraschtem Blick ansah.
»Die Großmutter meines Mannes sagt, dass sie von Euch geträumt hat, in der Vollmondnacht vor zwei Monaten.«
»Von mir?«
Gabrielle nickte. Nayawenne legte mir die Hand auf den Arm und blickte mir aufmerksam ins Gesicht, als wollte sie sehen, welche Wirkung Gabrielles Worte hatten.
»Sie hat uns von dem Traum erzählt, in dem sie eine Frau gesehen hatte mit –« Ihre Lippen zuckten, doch rasch hatte sie sich wieder unter Kontrolle und berührte sacht die Spitzen ihres eigenen, glatten Haars. »Drei Tage danach kehrten mein Mann und seine Söhne zurück und berichteten, dass sie Euch und dem Bärentöter im Wald begegnet waren.«
Berthe betrachtete mich ebenfalls mit unverhohlenem Interesse und wickelte sich eine Strähne ihres dunkelbraunen Haares um die Spitze ihres Zeigefingers.
»Sie, die heilt, hat sofort gesagt, dass sie Euch sehen muss, und als wir dann hörten, dass Ihr hier seid …«
Das jagte mir einen kleinen Schrecken ein; ich hatte nicht das Gefühl gehabt, dass wir beobachtet wurden, und doch hatte ganz offensichtlich jemand unsere Anwesenheit auf dem Berg bemerkt und Nacognaweto die Nachricht überbracht.
Da ihr diese Nebensächlichkeiten zu lange dauerten, stieß Nayawenne ihre Schwiegerenkelin an, sagte etwas und wies dann nachdrücklich auf das Wasser zu unseren Füßen.
»Die Großmutter meines Mannes sagt, Ihr seid ihr hier an dieser Stelle im Traum erschienen.« Gabrielle wies auf das Becken und sah mich mit großem Ernst an.
»Sie ist Euch hier in der Nacht begegnet. Der Mond war im Wasser. Ihr habt Euch in einen weißen Raben verwandelt, seid über das Wasser geflogen und habt den Mond verschluckt.«
»Oh?« Ich hoffte, dass das keine Untat von mir gewesen war.
»Der weiße Rabe kam zurück und hat ihr ein Ei in die Handfläche gelegt. Das Ei ist aufgesprungen, und es war ein glänzender Stein darin. Die Großmutter meines Mannes wusste, dass dies ein großer Zauber war, dass dieser Stein Krankheiten heilen kann.«