Das war ein markerschütternder Gedanke. Hatte Claire ihre Tochter nach Schottland gebracht, um sie ihrem tatsächlichen Vater vorzustellen? Roger schüttelte skeptisch den Kopf. Das wäre verdammt riskant gewesen. Es konnte Brianna schließlich nur zutiefst verwirren, und für Claire selbst musste es furchtbar schmerzhaft sein. Und dem Vater würde es einen Mordsschrecken einjagen. Brianna hing eindeutig sehr an Frank Randall. Was würde sie empfinden, wenn ihr klar wurde, dass der Mann, den sie ihr Leben lang geliebt und vergöttert hatte, in Wirklichkeit gar nicht mit ihr verwandt war?
Roger bedauerte alle Beteiligten, ihn selbst mit eingeschlossen. Er hatte nicht darum gebeten, in dieser Angelegenheit eine Rolle zu spielen, und er wünschte sich die selige Ahnungslosigkeit von gestern zurück. Er mochte Claire Randall, sehr sogar, und der Gedanke, dass sie fremdgegangen war, missfiel ihm. Gleichzeitig jedoch verachtete er sich für diese altmodische Sentimentalität. Wer wusste schon, wie ihr Leben mit Frank Randall gewesen war? Vielleicht hatte sie ja gute Gründe gehabt, mit einem anderen davonzulaufen. Aber warum war sie dann zurückgekommen?
Verschwitzt und mürrisch wanderte Roger zum Haus zurück. Im Flur zog er seine Jacke aus und ging nach oben, um ein Bad zu nehmen. Manchmal stellte das seinen Seelenfrieden wieder her, und den hatte er jetzt bitter nötig.
Er fuhr mit der Hand über die Reihe der Kleiderbügel in seinem Schrank und tastete nach der flauschigen Schulter seines weißen Frotteebademantels. Dann hielt er einen Moment inne, griff stattdessen tief in den Schrank und schob die Kleiderbügel beiseite, bis er den einen zu fassen bekam, den er wollte.
Liebevoll betrachtete er den schäbigen alten Morgenrock. Der gelbe Seidenstoff hatte sich ocker verfärbt, doch die bunten Pfauen leuchteten wie eh und je; die Schwänze unbekümmert zu hochherrschaftlichen Rädern aufgestellt, blickten sie dem Betrachter mit ihren schwarzen Perlenaugen entgegen. Er hielt sich den weichen Stoff an das Gesicht, holte tief Luft und schloss die Augen. Der schwache Duft nach Borkum Riff und verschüttetem Whisky holte den Reverend auf eine Weise zurück, wie es nicht einmal die Kuriositätenwand seines Vaters vermochte.
So oft hatte er dieses tröstende, von einem Hauch Old Spice überlagerte Aroma gerochen, wenn er das Gesicht an die glatte Seide drückte und der Reverend die kräftigen Arme schützend um ihn schlang, ihm Zuflucht versprach. Die anderen Kleidungsstücke des alten Mannes hatte er Oxfam überlassen, doch irgendwie konnte er es nicht ertragen, sich von diesem Stück zu trennen.
Er gab einem Impuls nach und legte sich den Morgenrock um die nackten Schultern, etwas überrascht über die schwache Wärme des Stoffs, der sich wie die Liebkosung von Fingern auf seine Haut legte. Genießerisch bewegte er die Schultern unter der Seide, dann schlang er sich den Morgenrock eng um den Körper und band den Gürtel lässig zu einem Knoten.
Argwöhnisch auf der Hut vor möglichen Überfällen durch Fiona ging er durch den Flur in der oberen Etage zum Badezimmer. Der Heißwassergeiser stand am Kopfende der Badewanne wie der Wächter einer heiligen Quelle, wuchtig und immerwährend. Zu seinen Kindheitserinnerungen zählte auch der allwöchentliche Schrecken des Versuchs, den Geiser mit einem Klappfeuerzeug anzuzünden, um das Badewasser zu erhitzen. Das Gas zischte drohend an seinem Kopf vorbei, während seine aus Todesangst vor einer Explosion schlüpfrigen Hände wirkungslos von der Metallhülle des Feuerzeugs abrutschten.
Heute gurgelte der Geiser, der schon lange durch eine Operation an seinen mysteriösen Innereien automatisiert worden war, nur noch leise vor sich hin, und der brennende Gasring rauschte unsichtbar hinter einem Metallschild. Roger drehte den zersprungenen »Warm«-Hahn auf, so weit es ging, fügte eine halbe Drehung »Kalt« hinzu und stellte sich dann vor den Spiegel, um sich zu betrachten, während er darauf wartete, dass sich die Wanne füllte.
Eigentlich gar nicht so schlecht, dachte er, während er den Bauch einzog und sich aufrecht vor sein bodenlanges Spiegelbild an der Rückseite der Tür stellte. Fest. Gut in Form. Lange Beine, aber keine Storchenstelzen. Möglicherweise etwas schmächtig um die Schultern? Er runzelte kritisch die Stirn und drehte seinen schlanken Körper hin und her.
Er fuhr sich mit der Hand durch das schwarze Haar, bis es wie ein Rasierpinsel abstand, und versuchte, sich auszumalen, wie er wohl mit langem Haar und Bart aussehen würde, so wie ein paar seiner Studenten. Würde er verwegen aussehen oder nur mottenzerfressen? Ein Ohrring vielleicht, wo er schon dabei war? Dann könnte er wie ein Pirat aussehen, wie Edward Teach oder Henry Morgan. Er zog die Augenbrauen zusammen und entblößte die Zähne.
»Grrrrr«, sagte er zu seinem Spiegelbild.
»Mr. Wakefield?«, sagte das Spiegelbild.
Roger fuhr erschrocken zurück und stieß sich den Zeh schmerzhaft an einem der vorstehenden Klauenfüße der betagten Badewanne.
»Au!«