»Das klingt vernünftig«, sagte ich und versuchte schwach zu lächeln. Ich blickte zur Tür, denn vorn im Gasthaus erhoben sich Stimmen. Mr. Gowan sah meinen Blick und nickte.
»Aye, ich muss jeden Moment gehen. Ich habe dafür gesorgt, dass Ihr die Nacht hier verbringt.« Er sah sich skeptisch um. Das Zimmer war ein kleiner Schuppen an der Rückseite des Gasthauses, der zum Großteil als Lagerraum diente. Es war kalt und dunkel, doch es war trotzdem unvergleichlich viel besser als das Diebesloch.
Die Tür des Schuppens öffnete sich und rahmte den Umriss des Gastwirts ein, der hinter einer flackernden Kerzenflamme in das Zwielicht blinzelte. Mr. Gowan erhob sich zum Gehen, doch ich packte ihn beim Ärmel. Es gab etwas, das ich wissen musste.
»Mr. Gowan – hat Colum Euch geschickt, um mir zu helfen?« Er zögerte, ehe er antwortete, doch innerhalb der Grenzen, die ihm sein Beruf setzte, war er ein Mensch von untadeliger Aufrichtigkeit.
»Nein«, sagte er unverblümt. Ein Hauch von Verlegenheit huschte über seine verwitterten Gesichtszüge, und er fügte hinzu: »Ich bin … allein gekommen.« Er setzte sich den Hut auf, wandte sich zur Tür und wünschte mir knapp einen guten Abend, ehe er im hell erleuchteten Treiben des Gasthauses verschwand.
Man hatte nicht viele Vorbereitungen für meinen Aufenthalt getroffen, doch auf einem der Fässer standen ein kleiner Weinkrug und ein Brotlaib – diesmal sauber –, und davor lag zusammengefaltet eine alte Decke.
Ich hüllte mich in die Decke und setzte mich auf eins der kleineren Fässer, um während des kargen Mahls zu überlegen.
Colum hatte den Anwalt also nicht geschickt. Hatte er überhaupt gewusst, dass Mr. Gowan vorhatte zu kommen? Es war gut möglich, dass Colum verboten hatte, dass irgendjemand ins Dorf ging, weil er nicht in die Hexenjagd verwickelt werden wollte. Die Wogen der Angst und der Hysterie, die durch das Dorf peitschten, waren deutlich zu spüren; ich konnte fühlen, wie sie an die dünnen Wände meiner Zuflucht schlugen.
Plötzlicher Lärm aus dem Schankraum unterbrach mich in meinen Gedanken. Es mochte ja so sein, dass sich meine Totenwache nur hinauszögerte. Doch am Rand der Vernichtung war jede zusätzliche Stunde Grund zur Dankbarkeit. Ich wickelte mich in die Decke, zog sie mir über den Kopf, um den Lärm aus dem Gasthaus auszusperren, und konzentrierte mich mit aller Kraft auf dieses Gefühl des Dankes.
Nach einer furchtbar unruhigen Nacht scheuchte man mich bei Tagesanbruch auf und führte mich wieder hinaus auf den Platz, obwohl die Richter erst eine Stunde später eintrafen.
Rundum ausgeschlafen und fett gefrühstückt machten sie sich geradewegs an die Arbeit. Patachon wandte sich an John MacRae, der seinen Posten hinter den Angeklagten wieder bezogen hatte.
»Wir sehen uns außerstande, allein auf der Basis der angeführten Beweise eine Schuld festzustellen.« Ein Aufschrei der Entrüstung ging durch die Menge, die sich jetzt wieder gesammelt hatte und längst zu ihren eigenen Schlüssen gekommen war. Doch Pat heftete den Blick bohrend auf die jungen Männer in der ersten Reihe, die verstummten wie mit kaltem Wasser begossene Hunde. Nachdem die Ordnung wiederhergestellt war, richtete er sein kantiges Gesicht wieder auf den Dorfschulzen.
»Führt die Gefangenen zum Ufer des Sees, bitte.« Diese Worte verursachten ein erwartungsvolles Raunen, das meinen schlimmsten Argwohn weckte. John MacRae nahm mich an einem Arm und Geilie am anderen, um uns mitzunehmen, doch er bekam reichlich Hilfe. Brutale Hände zerrten an meinem Kleid und kniffen und schubsten mich, während ich vorwärtsgezerrt wurde. Irgendein Idiot hatte eine Trommel dabei und schlug einen rauhen Wirbel. Die Menge sang im Rhythmus der Trommel etwas, das ich im Lärm der Ausrufe und Schreie nicht verstand. Ich hatte allerdings auch nicht das Gefühl, dass ich unbedingt wissen wollte, was es bedeutete.
Die Prozession zog sich über die Wiese zum Ufer des Sees, wo ein kleiner Holzsteg in das Wasser ragte. Wir wurden an das Ende dieses Stegs gezogen, wo die Richter jetzt rechts und links Position bezogen hatten. Patachon wandte sich der Menge am Ufer zu.
»Bringt uns die Stricke!« Allgemeines Gemurmel und erwartungsvolle Blicke, bis jemand hastig mit einem dünnen Strick angelaufen kam. MacRae nahm ihn entgegen und kam sehr zögernd auf mich zu, doch ein verstohlener Blick auf die Inspektoren schien ihn in seiner Entschlossenheit zu bestärken.
»Bitte seid so gütig, Eure Schuhe auszuziehen, Madam«, ordnete er an.
»Warum zum Teu… warum denn?«, fragte ich aufsässig und verschränkte die Arme.
Da er auf Widerstand sichtlich nicht vorbereitet war, blinzelte er nur, doch einer der Richter nahm ihm die Antwort ab.