Jamie erschoss ihn durch seinen Umhang hindurch. Der Rotrock war keine zwei Meter von ihm entfernt, und er kippte aus dem Sattel, ehe der Fleck auf seiner Brust die Größe meiner Hand angenommen hatte.
Der Korporal lag noch nicht am Boden, als Murtagh schon eine Pistole in jeder Hand hatte. Eine Kugel ging ins Leere, weil sein Pferd vor dem plötzlichen Lärm scheute. Die zweite traf ihr Ziel. Sie fraß sich durch den Oberarm eines Soldaten und riss ihm ein Stück Stoff vom Ärmel ab. Doch der Mann blieb im Sattel sitzen und zerrte einhändig an seinem Säbel, während Murtagh in seinem Umhang nach frischen Waffen fingerte.
Einer der beiden anderen Soldaten wendete sein Pferd, das dabei im Schnee ausrutschte, und hielt im Galopp auf das Gefängnis zu, vermutlich um Hilfe zu holen.
»Claire!«, ertönte es über mir. Als ich alarmiert den Kopf hob, sah ich, wie Jamie mit hektischem Winken auf den Flüchtenden wies. »Halt ihn auf!« Er hatte gerade genug Zeit, mir seine zweite Pistole zuzuwerfen, dann wandte er sich wieder um und zog sein Schwert, um den Angriff des vierten Soldaten zu parieren.
Mein Pferd war kampferfahren; es hatte zwar die Ohren angelegt und scharrte auf der Stelle, doch es war nicht vor dem Lärm der Schüsse geflüchtet und rührte sich nicht vom Fleck, als ich den Sattel packte. Es war froh, den Kampf hinter sich zu lassen, und rannte los, sobald ich oben saß. Wir folgten dem Flüchtenden mit Höchstgeschwindigkeit.
Der Schnee behinderte uns zwar fast genauso sehr wie ihn, doch ich hatte das bessere Pferd, und wir hatten den Vorteil, dass der Mann seinen Fluchtweg vor uns in den frischen Schnee gepflügt hatte. Wir holten langsam auf, aber ich konnte sehen, dass es nicht reichen würde. Allerdings hatte er nun eine Anhöhe vor sich; wenn ich mich rechts hielt, kam ich vielleicht auf ebenem Boden schneller voran und konnte ihn auf der anderen Seite abfangen. Ich hielt mich krampfhaft fest, um im Sattel zu bleiben, während mein Pferd rutschend wendete, wieder auf die Beine kam und weiterrannte.
Ich holte ihn zwar dadurch nicht ein, doch ich hatte den Abstand zwischen uns auf nicht mehr als zehn Meter verringert. Hätten wir unbegrenzt Zeit gehabt, hätte ich ihn wahrscheinlich erwischt, doch diesen Luxus hatte ich nicht; die Mauern der Festung waren keine Meile mehr von uns entfernt.
Ich hielt an und stieg ab. Mein Pferd mochte ja kampferprobt sein, doch ich wusste nicht, was es tun würde, wenn ich auf seinem Rücken eine Pistole abfeuerte. Selbst wenn es wie eine Statue stehen bleiben sollte, glaubte ich nicht, dass ich im Sattel gut genug zielen konnte. Ich kniete mich in den Schnee, stützte den Ellbogen auf mein Knie und legte mir die Pistole über den Unterarm, wie Jamie es mir gezeigt hatte. »Hier aufstützen, da zielen,
Zu meinem großen Erstaunen traf ich das flüchtende Pferd. Es kam ins Rutschen, knickte vorn ein und landete rollend im Schnee. Mein Arm war taub vom Rückstoß der Pistole; ich blieb stehen und rieb ihn mir, während ich den gestürzten Soldaten beobachtete.
Er war verletzt, er versuchte aufzustehen, dann fiel er wieder in den Schnee. Sein Pferd, das an der Schulter blutete, stolperte mit hängenden Zügeln davon.
Ich begriff zwar erst später, was mir in diesem Moment durch den Kopf ging, doch ich wusste schon, als ich mich näherte, dass ich ihn nicht leben lassen konnte. So dicht vor dem Gefängnis, wo noch andere Patrouillen nach den entflohenen Sträflingen suchten, würde man ihn mit Sicherheit bald finden. Und wenn man ihn lebend fand, konnte er uns nicht nur beschreiben – und das war dann das Ende meiner Tarnung als Geisel –, sondern er konnte auch sagen, wohin wir unterwegs waren. Es waren immer noch drei Meilen bis zur Küste; zwei Stunden im dichten Schnee. Und wenn wir dort waren, mussten wir ein Schiff finden. Ich konnte nicht riskieren, dass er jemandem von uns erzählte.
Er kämpfte sich auf die Ellbogen hoch, als ich näher kam. Überrascht riss er die Augen auf, als er mich sah, dann entspannte er sich. Ich war eine Frau. Er hatte keine Angst vor mir.
Ein erfahrenerer Mann wäre vielleicht trotz meines Geschlechts auf der Hut gewesen, doch er war noch ein Junge. Nicht älter als sechzehn, begriff ich schlagartig, und mir wurde schlecht. Auf seinen pickeligen Wangen zeichneten sich noch die letzten Rundungen der Kindheit ab, obwohl seine Oberlippe schon ein hoffnungsvolles Schnurrbärtchen trug.
Er öffnete den Mund, stöhnte aber nur vor Schmerzen. Er presste sich die Hand auf die Seite, und ich konnte das Blut sehen, das ihm durch Hemd und Rock drang. Innere Verletzungen also; das Pferd musste sich auf ihn gewälzt haben.
Es war möglich, dachte ich, dass er ohnehin sterben würde. Doch ich durfte mich darauf nicht verlassen.