»Ich möchte Euch nicht aufhalten«, sagte ich und blickte zum Kreuzgang. »Ich wollte mich nur für Eure Hilfe bedanken.«
»Ihr haltet mich nicht auf, Madame. Ich habe selbst der Untätigkeit gefrönt und meinen Weg zur Arbeit in die Länge gezogen.«
»Was für eine Arbeit ist das denn?«, fragte ich nun neugierig. Dieser Mann war eindeutig in der Abtei zu Besuch; seine schwarze Franziskanerkutte stach ja auch aus dem Braun der Benediktiner heraus wie ein Tintenfleck. Bruder Polydore hatte mir erzählt, dass es im Kloster mehrere solcher Gäste gab, meistens Gelehrte, die hier die Werke der berühmten Klosterbibliothek konsultieren wollten. Auch Anselm zählte anscheinend dazu. Er war seit einigen Monaten mit einer Übersetzung der Werke Herodots beschäftigt.
»Habt Ihr die Bibliothek schon gesehen?«, fragte er. »Dann kommt«, forderte er mich auf, als er mein Kopfschütteln sah. »Sie ist wirklich sehr beeindruckend, und ich bin sicher, Euer Onkel, der Abt, hätte nichts dagegen.«
Da ich nicht nur neugierig auf die Bibliothek war, sondern es mir auch widerstrebte, jetzt schon in die Isolation des Gästeflügels zurückzukehren, folgte ich ihm ohne Zögern.
Die Bibliothek war ein herrlicher hoher Raum, dessen gotische Säulen sich an der Gewölbedecke zu Spitzbögen vereinten. Die Zwischenräume zwischen den Säulen waren mit deckenhohen Fenstern ausgefüllt, die Licht in Hülle und Fülle hineinließen. Die meisten bestanden aus klarem Glas, doch einige waren dazu mit täuschend schlicht aussehenden Glasmalereien verziert. Ich ging auf den Zehenspitzen an den vornübergebeugten Gestalten der studierenden Mönche vorbei und blieb stehen, um eine Darstellung der Flucht nach Ägypten zu bestaunen.
Einige Buchregale sahen aus wie die Regale, die ich kannte und in denen die Bücher nebeneinanderstanden. In anderen Regalen wurden die Bücher liegend aufbewahrt, um die betagten Buchdeckel zu schonen. Es gab sogar eine Vitrine mit einigen Pergamentrollen. In der gesamten Bibliothek herrschte ein gedämpftes Hochgefühl, als sängen die geschätzten Bände zwischen den Buchdeckeln lautlos vor sich hin. Als ich die Bibliothek wieder verließ, fühlte ich mich getröstet. Ich schlenderte langsam mit Vater Anselm über den Hof.
Ich versuchte noch einmal, ihm für seine Hilfe in der vergangenen Nacht zu danken, doch er tat es achselzuckend ab.
»Denkt Euch nichts dabei, mein Kind. Ich hoffe, dass es Eurem Gemahl heute bessergeht.«
»Das hoffe ich auch«, sagte ich. Da ich dieses Thema nicht vertiefen wollte, fragte ich: »Was genau ist denn die ewige Anbetung? Ihr habt gesagt, Ihr wärt auf dem Weg dorthin gewesen.«
»Ihr seid nicht katholisch?«, fragte er überrascht. »Ah, natürlich, ich vergaß, Ihr seid ja Engländerin. Dann seid Ihr wohl Protestantin?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt irgendetwas davon bin«, erwiderte ich. »Theoretisch bin ich allerdings katholisch.«
»Theoretisch?« Seine glatten Augenbrauen hoben sich erstaunt. Ich zögerte, weil mich meine Erlebnisse mit Vater Bain vorsichtig gemacht hatten, doch dieser Mann machte nicht den Eindruck, als hätte er vor, Kruzifixe in meine Richtung zu schwenken.
»Nun ja«, sagte ich und bückte mich, um eine kleine Pflanze zwischen den Pflastersteinen hervorzuziehen, »ich bin katholisch getauft. Aber meine Eltern sind gestorben, als ich fünf war, und ich bin bei einem Onkel groß geworden. Onkel Lambert war …« Ich hielt inne und dachte an Onkel Lamberts unersättlichen Hunger nach Wissen und den ebenso fröhlichen wie objektiven Zynismus, mit dem er jede Religion nur als Merkmal zur Kategorisierung einer Kultur betrachtete. »Nun, ich vermute, was seinen Glauben betrifft, ist er alles und nichts gewesen«, schloss ich. »Er kannte alle Religionen, hat aber an keine geglaubt. Also bin ich nie religiös erzogen worden. Und mein … erster Ehemann war zwar katholisch, aber nicht sehr streng. Ganz offen gesagt bin ich also wohl eine ziemliche Heidin.«
Ich betrachtete ihn argwöhnisch, doch statt über meine Enthüllungen schockiert zu sein, lachte er herzlich.
»Alles und nichts«, sagte er und ließ sich den Ausdruck auf der Zunge zergehen. »Das gefällt mir sehr. Was allerdings Euch betrifft … bedaure. Wer einmal ein Mitglied der heiligen Mutter Kirche ist, bleibt ewig ihr Kind. Ganz gleich, wie wenig Ihr über Eure Religion wissen mögt, Ihr seid genauso katholisch wie unser Heiliger Vater, der Papst.« Er hob den Kopf. Der Himmel war zwar bedeckt, doch die Zweige der Erlen vor der Kirche regten sich nicht.
»Der Sturm ist vorüber. Ich wollte einen kurzen Spaziergang machen, um meinen Kopf im Freien zu lüften. Warum begleitet Ihr mich nicht? Ihr braucht Luft und Bewegung, und ich kann vielleicht zu Eurem geistlichen Wohl beitragen, indem ich Euch unterwegs vom Ritual der ewigen Anbetung erzähle.«
»Zwei Fliegen mit einer Klappe, wie?«, sagte ich trocken. Doch die Aussicht auf frische Luft war auch ohne Sonne verlockend, und ich holte ohne Umschweife meinen Umhang.