Und jetzt war die Ruhezeit wenigstens vorbei, und Alexandra stand, sonntäglich angezogen, in dem leeren Speiseraum und blickte durch das Fenster auf das Pförtnerhaus, während zwei dienende Nonnen den gefliesten Boden schrubbten. Ihr war Übel. Klump, dachte sie. Fahr dein blödes Rad zu Klump und dich dazu. Andere Mädchen bekamen auch Besuch, aber nur samstags, und keine hatte einen Onkel Anton, nur wenige bekamen männlichen Besuch irgendwelcher Art, meist kamen bläßliche Tanten und gelangweilte Schwestern. Und keiner wurde Felicitas-Felicitas' Arbeitszimmer zur Verfügung gestellt, damit sie den Besucher hinter verschlossener Tür allein empfangen könne. Das war ein Privileg, das allein Alexandra und Onkel Anton genossen, wie Schwester Béatitude nicht müde wurde zu betonen. Doch Alexandra hätte diese Vergünstigung und noch etliche dazu liebend gern für das Privileg eingetauscht, keinerlei Besuch von Onkel Anton zu erhalten.
Das Tor am Pförtnerhaus ging auf, und sie fing absichtlich an zu zittern, schüttelte ihre Hände in den Gelenken, als habe sie eine Maus, eine Spinne oder einen nackten Mann vor sich gesehen. Eine rundliche Gestalt in einem braunen Anzug radelte die Anfahrt herauf. Aus seiner Bemühtheit konnte sie schließen, daß er kein geübter Radfahrer war. Er kam nicht von weit und brachte auch keine Frische von draußen mit. Es mochte brütend heiß sein, Onkel Anton schwitzte nicht und kochte nicht. Es mochte in Strömen regnen, Onkel Antons Mackintosh und Hut würden, wenn er am Haupttor ankam, kaum naß sein, und seine Schuhe waren nie schmutzig. Nur vor drei Wochen, oder war's vor drei Jahren, als gewaltige Massen von Schnee gefallen waren und einen zusätzlichen Wall von einem Meter Höhe um das tote Schloß gezogen hatten, sah Onkel Anton annähernd wie ein echter Mensch aus, der aus echten Elementen kam: Wie er so in seinen dicken Stiefeln, seinem Anorak und seiner Pelzkappe an den Tannen entlang den Pfad heraufstapfte, trat er geradewegs aus Erinnerungen, von denen sie nie sprechen durfte. Und als er sie umarmte, sie »mein Töchterchen« nannte, seine großen Handschuhe auf Felicitas-Felicitas' glänzend polierten Tisch knallte, da spürte sie ein Gefühl der Verwandtschaft und eine Hoffnung in sich hochsteigen, so übermächtig, daß sie sich noch Tage später dabei ertappte, wie sie in der Erinnerung daran lächelte.
»Er war so warm«, vertraute sie Schwester Béatitude in ihrem bißchen Französisch an. »Er hat mich im Arm gehalten, wie einen Freund! Warum macht der Schnee ihn so zärtlich?«
Doch heute sah man nur Matsch und
Nebel und große, weiche Flocken, die auf dem gelben Kies nicht liegenbleiben
würden. Er kommt in einem Wagen, Sascha - hatte Schwester Beatitude einmal zu
ihr gesagt -, mit einer
Doch Alexandra ließen gesetzeswidrige Fahrräder kalt. Was sie interessierte, war das Auto. Welche Marke? Welche Farbe? Und vor allem, woher kam es? Aus Moskau? Aus Paris? Woher? Doch Schwester Beatitude war vom Lande und schlichten Gemüts, für sie war in der Welt hinter den Bergen eine Stadt wie die andere. Was waren denn für Buchstaben auf dem Nummernschild, um Himmels willen, du Dummkopf, schrie Alexandra. Schwester Beatitude hatte keine Ahnung. Schwester Béatitude schüttelte den Kopf, wie das tumbe Milchmädchen, das sie war. Von Fahrrädern und Kühen verstand sie etwas. Autos gingen über ihren Horizont.