Alexandra hatte nun beschlossen, eine Heilige zu sein. Sie faltete die Hände auf dem Schoß und legte den Kopf auf die Seite und stellte sich vor, sie sei eine von Felicitas-Felicitas' russisch-orthodoxen Heiligen, die hinter dem Schreibtisch an der Wand hingen. Vera, der Glaube, Liubow, die Liebe; Sofia, Olga, Irina oder Xenia; alle die Namen, die Felicitas sie an jenem Abend lehrte, als sie ihr anvertraute, daß ihr richtiger Name >Hoffnung< sei - während Alexandras Name Alexandra oder Sascha war und nicht, aber schon ganz und gar nicht Tatjana, merk dir das. Alexandra lächelte Onkel Anton an, und sie wußte, daß ihr Lächeln sublim war und tolerant und weise; und daß sie Gottes Stimme hörte und nicht die Onkel Antons; und Onkel Anton wußte das auch, denn er gab einen langen Seufzer von sich, legte das Notizbuch beiseite und drückte auf die Klingel, um Mutter Felicitas zur Geldzeremonie herbeizurufen.
Mutter Felicitas kam hastig herein, und Alexandra vermutete daß sie nicht weit von der Türe entfernt auf der anderen Seite gewartet hatte. Sie hielt die Rechnung fertig in der Hand. Onkel Anton prüfte sie stirnrunzelnd wie immer, zählte dann die Scheine, blaue und orangefarbene, einzeln auf den Tisch, so daß jeder einen Augenblick lang im Strahl der Leselampe durchsichtig wurde. Dann tätschelte Onkel Anton Alexandra die Schulter, als sei sie fünfzehn und nicht fünfundzwanzig oder zwanzig oder wie alt auch immer sie war, als sie die verbotenen Teile ihres Lebens abgekappt hatte. Sie sah zu, wie er zur Tür und dann zum Rad watschelte. Sie beobachtete, wie sein Strampeln immer regelmäßiger wurde, als er von ihr weg an Krankos Pförtnerhaus vorbei den Hügel hinab zum Dorf fuhr. Und dabei sah sie etwas Merkwürdiges, etwas, was nie zuvor passiert war, zumindest nicht Onkel Anton. Aus dem Nichts tauchten zwei entschlossene Gestalten auf, ein Mann und eine Frau, die ein Motorrad schoben. Sie mußten auf der Sonnenbank auf der anderen Seite des Pförtnerhauses gesessen haben, hatten sich vor den Blicken verborgen, vielleicht um sich zu lieben. Sie schwenkten in die Straße ein und starrten ihm nach, stiegen aber nicht auf ihr Motorrad, noch nicht. Sie warteten, bis er fast außer Sicht war, bevor sie hügelab hinter ihm herfuhren. Nun entschloß Alexandra sich zu schreien, und diesmal fand sie ihre Sprechstimme, und der Schrei zerriß das Haus vom First bis zum Grund, bis Schwester Béatitude sich auf sie stürzte, um sie mit einem heftigen Schlag auf den Mund zu zähmen.
»Es sind dieselben Leute«, erklärte Alexandra.
»Wer, es?« fragte Schwester Beatitude, die Hand erhoben für den Fall, daß sie sie nochmals benötigen würde. »Wer sind dieselben Leute, du böses Mädchen?«
»Die Leute, die meiner Mutter nachgegangen sind, bevor sie sie weggezogen und umgebracht haben.«
Schwester Beatitude schnaubte ungläubig. »Mit Rappen, wahrscheinlich!« spottete sie. »Auf einem Schlitten quer durch Sibirien gezogen.«
Alexandra hatte diese Geschichten schon mehrmals ausgesponnen. Daß ihr Vater ein Fürst war, mächtiger als der Zar. Daß er nachts herrschte, wie die Eulen, wenn die Falken ruhen. Daß seine grauen Augen ihr überallhin folgten, daß seine geheimen Ohren jedes Wort hörten, das sie sagte. Und daß er eines Nachts, als er ihre Mutter im Schlaf beten hörte, nach seinen Männern schickte, die sie mit in den Schnee hinausnahmen. Niemand hat sie je wiedergesehen, nicht einmal der liebe Gott, er schaut immer noch nach ihr aus.
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Das Verbrennen von »Tricky Tony« - so der launige Codename, den Grigoriew von seinen Beschattern erhielt - ging später in die Circus-Mythologie als eine jener seltenen Operationen ein, bei denen sich Glück, Zeitwahl und organisatorische Vorbereitung zur idealen Verbindung zusammentaten. Allen Beteiligten war von Anfang an klar gewesen, daß es darum ging, Grigoriews allein habhaft zu werden, und zwar bei einer Gelegenheit, die ein paar Stunden später eine reibungslose Rückführung in sein normales Leben ermöglichen würde. Doch bis zum Wochenende nach dem Einsatz in der Thuner Bank hatte die intensive Ausforschung von Grigoriews Verhaltensmuster noch keine klaren Hinweise darauf ergeben, wann eine solche Gelegenheit eintreten werde. Skordeno und de Silsky, Tobys harte Männer, entwarfen in ihrer Verzweiflung bereits den hirnrissigen Plan, Grigoriew auf dem Weg zur Arbeit zu schnappen, irgendwo an den paar hundert Metern zwischen seinem Haus und der Botschaft. Toby winkte sofort ab. Eines der Mädchen bot sich als Lockvogel an: Vielleicht könnte sie sich als Anhalterin an Grigoriew heranmachen? Ihre noble Geste erntete Beifall, die praktische Durchführbarkeit war jedoch gleich null.