Plötzlich wollte Alexandra nicht
mehr auf seine Fragen antworten. Plötzlich war ihr das unmöglich. Sie
überlegte, ob sie ihm nicht die Hosen herunterziehen und ihn verknuspern
sollte. Sie überlegte, ob sie nicht wie die Französin in eine Ecke machen
sollte. Sie zeigte ihm die blutig gekauten Stellen an ihren Händen. Sie wollte
ihm durch ihr eigenes göttliches Blut zu verstehen geben, daß sie seine erste
Frage nicht hören wollte. Sie stand auf, hielt ihm eine Hand hin, während sie
die Zähne in die andere grub. Sie wollte Onkel Anton ein für allemal
klarmachen, daß die Frage, die er im Kopf hatte, obszön war, beleidigend, unannehmbar
und verrückt, und zu dieser Demonstration hatte sie das nächstliegende und
beste Beispiel gewählt, das Beispiel Christi: Hing Er nicht an Felicitas'
Wand, direkt vor ihr, und Blut lief an seinen Handgelenken herab?
Onkel Anton hielt in der Rechten
das Notizbuch und in der Linken den Stift. Er war der einzige Linkshänder, den
sie kannte, und wenn sie ihm beim Schreiben zusah, fragte sie sich manchmal,
ob er nicht ein Spiegelbild war und sein echtes Ich im Wagen hinter der Scheune
von Andreas Gertsch saß. Sie dachte, daß man auf diese Weise glänzend mit dem
fertig werden könnte, was Doktor Rüedli
Plötzlich hörte sie sich sprechen. Es war ein herrlicher Klang. Ein Klang, den sie an den kräftigen, gesunden Stimmen um sich herum liebte: Politiker im Rundfunk, Ärzte, wenn sie sich über ihr Bett beugten.
»Onkel Anton, wo kommst du bitte her?« hörte sie sich mit gemessener Neugierde fragen. »Onkel Anton, paß bitte genau auf, während ich jetzt eine Aussage mache. Bevor du mir nicht sagst, wer du bist und ob du wirklich mein Onkel bist, und was für ein Nummernschild dein großer, schwarzer Wagen hat, beantworte ich keine einzige deiner Fragen mehr. Tut mir leid, aber es geht nicht anders. Ich will auch wissen, ob die Rothaarige deine Frau ist oder Felicitas-Felicitas mit gefärbtem Haar, wie Schwester Béatitude immer sagt.«
Doch Alexandras Geist sprach zu oft Wörter, die ihr Mund nicht weitergab, sodaß die Wörter in ihr herumflogen, unfreiwillig von ihr bewacht, so unfreiwillig wie Onkel Anton vorgab, sie selbst zu bewachen.
»Wer gibt dir das Geld, damit du Felicitas-Felicitas für meine Inhaftierung bezahlen kannst? Wer bezahlt Dr. Rüedi? Wer bestimmt, welche Fragen jede Woche in dein Notizbuch kommen? An wen gibst du die Antworten weiter, die du so gewissenhaft niederschreibst?«
Doch wieder flogen die Wörter in ihr herum wie die Vögel in Krankos Gewächshaus während der Obstzeit, und es gab nichts, womit Alexandra sie bewegen konnte, herauszukommen.
»Also?« sagte Onkel Anton zum drittenmal, mit dem verwaschenen Lächeln, das Dr. Rüedi aufsetzte, wenn er ihr eine Spritze gab. »Würdest du mir zuerst einmal deinen vollen Namen nennen, Alexandra?«
Alexandra hielt drei Finger in die Höhe und zählte wie ein braves Kind an ihnen ab. »Alexandra Borisowna Ostrakowa«, sagte sie mit kindlicher Stimme.
»Gut. Und wie hast du dich diese Woche gefühlt, Sascha?« Alexandra lächelte höflich.
»Danke, Onkel Anton. Ich habe mich diese Woche viel besser gefühlt. Dr. Rüedi sagt, daß ich jetzt überm Berg bin.«
»Hast du irgendwie - per Post, Telefon oder mündlich - eine Botschaft von außerhalb bekommen?«