„Gabrielle“, bot sie ihm an. Sie lächelte unbehaglich. „Meinen Sie, dass die gerichtsmedizinische Abteilung, oder wer auch immer diese Art von Sachen macht, in der Lage sein wird, die Bilder deutlicher zu machen?“
Er neigte den Kopf ein wenig, eine Bewegung, die nicht ganz ein Nicken war, und steckte dann ihr Handy in die Tasche. „Ich bringe es Ihnen morgen Abend zurück. Sie sind dann zu Hause?“
„Sicher.“
„Lucan“, entgegnete er und betrachtete sie einen Moment lang eingehend. „Nennen Sie mich Lucan.“
Hitze schien aus seinen Augen nach ihr zu greifen, doch da war noch etwas anderes in diesen Augen: ein geradezu stoisches Verständnis, als habe dieser Mann mehr Schrecken gesehen, als sie jemals würde begreifen können. Sie konnte das Gefühl nicht benennen, das sie in diesem Augenblick durchströmte, aber es brachte ihren Puls zum Rasen, und der Raum fühlte sich an, als sei ihm die gesamte Luft entzogen worden. Der Mann sah sie immer noch an, abwartend, als erwartete er, dass sie seinen Wunsch, sie möge seinen Namen aussprechen, umgehend befolgte.
„In Ordnung … Lucan.“
„Gabrielle“, erwiderte er, und der Klang ihres Namens auf seinen Lippen ließ einen lustvollen Schauder durch ihre Adern schießen.
Etwas an der Wand hinter ihr erregte seine Aufmerksamkeit. Er warf einen Blick dorthin, wo eine von Gabrielles umjubeltsten Fotografien hing. Sein Mund kräuselte sich leicht, eine sinnliche Bewegung seiner Lippen, die auf Belustigung hindeutete, vielleicht auch auf Überraschung. Gabrielle drehte sich um, um das Bild eines Parks in der Innenstadt anzusehen, der gefroren und trostlos unter einer dichten Schneedecke im Dezember lag.
„Ihnen gefällt meine Arbeit nicht“, meinte sie.
Er schüttelte sanft seinen dunkelhaarigen Kopf. „Ich finde sie … faszinierend.“
Jetzt war ihre Neugierde geweckt. „Und warum?“
„Sie finden Schönheit an den ungewöhnlichsten Orten“, antwortete er nach einer langen Pause. Seine Aufmerksamkeit war nun auf sie gerichtet. „Ihre Bilder sind voller Leidenschaft …“
„Aber?“
Zu ihrer Verblüffung streckte er die Hand aus und strich mit dem Finger über die Linie ihres Kinns. „Es sind darauf keine Menschen zu sehen, Gabrielle.“
„Natürlich sind da …“
Sie wollte seine Behauptung schon abstreiten, aber bevor die Worte ihre Zunge erreichten, wurde ihr plötzlich bewusst, dass er recht hatte. Ihr Blick fiel rasch auf jede gerahmte Fotografie, die sie in ihrer Wohnung aufbewahrte, und in ihrer Erinnerung ging sie all die anderen Bilder durch, die in Galerien, Museen und Privatsammlungen überall in der Stadt hingen.
Er hatte recht. Auf allen Bildern waren nur leere Plätze, einsame Plätze zu sehen, egal, was ihr Thema war.
Keines von ihnen enthielt ein einziges Gesicht oder auch nur den Hauch von menschlichem Leben.
„Oh mein Gott“, flüsterte sie, fassungslos über diese Enthüllung.
In nur wenigen Momenten hatte dieser Mann ihre Arbeit definiert, wie es noch nie jemand zuvor getan hatte. Sie hatte nicht nur die offensichtliche Wahrheit in ihrer Kunst gesehen, sondern Lucan Thorne hatte ihr unerklärlicherweise die Augen geöffnet. Es war, als habe er einen Blick in ihre innerste Seele geworfen.
„Ich muss jetzt gehen“, sagte er und steuerte bereits auf die Tür zu.
Gabrielle folgte ihm und wünschte sich, er würde noch länger bleiben. Vielleicht würde er später noch einmal zurückkehren. Fast hätte sie ihn darum gebeten, aber sie zwang sich dazu, zumindest einen Rest an Selbstbeherrschung aufrechtzuerhalten. Thorne war schon halb zur Tür hinaus, als er plötzlich auf der Schwelle anhielt. Er wandte sich ihr zu und stand in der Enge des Vorraums viel zu dicht vor ihr. Sein großer Körper drängte sich gegen sie, aber Gabrielle hatte nichts dagegen einzuwenden. Sie wagte nicht einmal zu atmen.
„Stimmt irgendwas nicht?“
Seine feinen Nasenlöcher weiteten sich fast unmerklich. „Was für ein Parfüm benutzen Sie?“
Die Frage machte Gabrielle nervös. Sie war so unerwartet, so persönlich. Gabrielle spürte, wie Hitze in ihren Wangen aufstieg, obwohl sie keine Ahnung hatte, warum sie eigentlich verlegen war. „Ich benutze kein Parfüm. Es geht nicht. Ich bin allergisch.“
„Tatsächlich.“