In der Vision bewegte er sich jetzt. Er stapfte durch das ganze Zeug und bahnte sich einen Weg zu der geschlossenen Tür auf der anderen Seite des Raumes. Oh Gott, er kannte diesen Platz, das begriff er jetzt.
Er war in Tess’ Klinik.
Aber wo war sie?
Dante merkte, dass ihm alles wehtat, sein Körper fühlte sich zerschlagen an und müde, jeder Schritt war mühselig. Ehe er die Tür erreichen konnte, um nach draußen zu kommen, öffnete sie sich von der anderen Seite. Ein bekanntes Gesicht grinste ihn genüsslich durch den Rauch an.
„Ach, sieh mal an, wer da ist“, sagte Ben Sullivan, kam herein und hielt ein Stück Telefonkabel in den Händen. „Tod durch Feuer ist so eine schmutzige Art des Abgangs. Wenn du allerdings genug Rauch einatmest, sind die Flammen nur ein Nachspiel.“
Dante wusste, dass er keine Angst haben sollte, aber das Entsetzen schlug seine Krallen in ihn, als sein mutmaßlicher Henker den Raum betrat und ihn mit erstaunlich kraftvollem Griff packte. Dante versuchte zu kämpfen, aber seine Glieder schienen nicht wie gewohnt unter seinem Kommando zu stehen. Dann spannte der Mensch seinen Arm und streckte ihn mit einem Schlag aufs Kinn nieder.
Seine Vision verschwamm auf verrückte Weise. Als er das nächste Mal die Augen öffnete, lag er bäuchlings auf einem hochgestellten Operationstisch aus kaltem, polierten Stahl, während Ben Sullivan ihm die Hände auf den Rücken zog und ihn mit dem Telefonkabel an den Handgelenken fesselte. Dante hätte fähig sein sollen, die Fesseln zu sprengen, doch sie hielten. Der Mensch ging zu seinen Füßen und fesselte sie an die Handgelenke.
„Weißt du, ich hatte angenommen, dich zu töten würde schwierig sein“, flüsterte ihm der Crimson-Dealer ins Ohr. Dieselben Worte, die Dante gehört hatte, als er das letzte Mal mit diesem kurzen Eindruck seines Todes konfrontiert wurde. „Du hast es mir sehr leicht gemacht.“
Wie schon das letzte Mal wanderte Ben Sullivan zur Vorderseite der Platte und beugte leicht die Knie. Er griff Dante in die Haare und zog sein Gesicht nach oben. Hinter Sullivans Kopf sah Dante an der Wand über der Tür eine Uhr. Sie zeigte elf Uhr neununddreißig. Er kämpfte darum, mehr Einzelheiten wahrzunehmen. Er wusste, dass er alles brauchte, was er zusammentragen konnte. Vielleicht ließ sich das Wissen um bestimmte Details noch in einen Vorteil verwandeln. Er wusste nicht, ob es möglich war, das Schicksal auszutricksen, aber er war wild entschlossen, alles zu versuchen.
„So hätte es nicht kommen müssen“, sagte Sullivan jetzt. Der Mensch beugte sich näher heran – so nah, dass Dante den typischen leeren Blick des Lakaien erkannte. „Du sollst wissen, dass du dir das selbst eingebrockt hast. Sei dankbar, dass ich dich nicht meinem Meister überlasse.“
Damit ließ Ben Sullivan ihn los, und Dantes Kopf fiel zurück. Als der Lakai aus dem Raum schritt und die Tür verschloss, öffnete Dante die Augen und sah in der polierten Stahlfläche, auf der er lag, sein Spiegelbild.
Nein, nicht sein Spiegelbild.
Nicht sein Körper war auf den Behandlungstisch gefesselt, während die Klinik sich mit Rauch und Flammen füllte, sondern ihrer.
Es war gar nicht sein grässlicher Tod, den er all die Jahre in seinen Albträumen durchlitten hatte. Es war der Tod seiner Stammesgefährtin, der Frau, die er liebte.
Tess legte den Weg vom Anwesen des Stammes in die Stadt in einem Zustand emotionaler Taubheit zurück. Ohne ihre Handtasche, ihren Mantel und ihr Handy blieben ihr nur wenige Möglichkeiten – sie hatte nicht mal den Schlüssel, um in ihre eigene Wohnung zu kommen. Atemlos, verwirrt und total erschöpft von allem, was ihr passiert war, hielt sie auf eine Telefonzelle zu und betete, dass sie nicht zerstört war. Sie erhielt ein Freizeichen, drückte die Null und wartete auf die Vermittlung.
„Ein R-Gespräch, bitte“, keuchte sie in den Hörer und nannte der Frauenstimme die Nummer der Tierklinik. Das Telefon klingelte und klingelte. Niemand ging ran.
Als der Anrufbeantworter ansprang, unterbrach die Vermittlung die Verbindung, „Es tut mir leid, aber da ist kein Teilnehmer, der die Gebühr übernimmt.“
„Warten Sie bitte“, sagte Tess, besorgt, die Frau zu nerven. „Würden Sie es noch einmal versuchen?“
„Einen Moment bitte.“
Tess wartete ängstlich, als es in der Klinik wieder zu klingeln begann. Keine Antwort.
„Es tut mir leid“, sagte die Vermittlung wieder und unterbrach erneut die Verbindung.
„Das verstehe ich nicht“, murmelte Tess, mehr zu sich selbst. „Können Sie mir sagen, wie spät es ist?“
„Es ist zehn Uhr dreizehn.“
Nora würde vor Mittag keine Pause machen, und sie hatte sich noch nie krankgemeldet. Warum also nahm sie das Telefon nicht ab? Etwas musste passiert sein.
„Würden Sie eine andere Nummer probieren?“
„Bitte sehr.“
Tess nannte die Nummer von Noras Privatanschluss. Als dort niemand ranging, die von ihrem Handy. Nachdem auch dieser Anruf ohne Erfolg blieb, sank Tess das Herz in die Hose. Sie spürte es ganz deutlich: Irgendetwas war hier faul. Oberfaul.