Für Tess war er gewillt, in den Kern der Sonne zu gehen, wenn sie das vor dem Tod retten konnte, der, wie er wusste, schon auf sie wartete.
„Hör mir zu“, sagte Gideon und legte Dante eine Hand auf den Arm, um seine volle Aufmerksamkeit zu erhalten. „Du magst nicht so anfällig für Sonnenlicht sein wie ein Gen-Eins-Typ, aber du bist vom Stamm. Wenn du mehr als dreißig Minuten Sonnenlicht bekommst, bist du getoastet.“
„Es ist ja nicht so, dass ich da oben eine Sightseeingtour machen will“, sagte Dante, ohne sich beirren zu lassen. Er schüttelte die gut gemeinten Warnungen seiner Ordensbrüder ab und griff eine weitere Waffe aus dem Schrank. „Ich weiß, was ich tue, und ich muss es tun.“
Er hatte den anderen erzählt, was er gesehen hatte. Die ganze verdammte Vision, die ihm immer noch das Herz zerfleischte. Es brachte ihn schier um, daran zu denken, dass er Tess ohne Schutz aus dem Quartier gelassen hatte, dass er nicht fähig gewesen war, sie aufzuhalten. Dass sie schon in diesem Augenblick in Gefahr sein könnte, während ihn seine empfindlichen Vampirgene zwangen, sich unter der Erde zu verstecken.
„Was ist, wenn die Zeit, die du in deiner Vision gesehen hast – elf Uhr neununddreißig – bedeutet, dass es noch einundzwanzig Minuten bis Mitternacht sind?“, fragte Gideon. „Du kannst nicht sicher sein, dass sich das Ganze während der Morgenstunden abspielt. Vielleicht gehst du dieses irre Risiko ganz umsonst ein …“
„Und wenn ich warte, und dann kommt raus, es war doch andersherum? Das Risiko kann ich nicht eingehen.“ Dante schüttelte den Kopf. Er hatte versucht, sie zu Hause und in der Klinik telefonisch zu erreichen, aber da war niemand. Und der brennende Schmerz in seiner Brust verriet ihm, dass sie ihn nicht aus freien Stücken ignorierte. Auch ohne die Gabe seiner höllischen Vorausschau wusste er, dass seine Stammesgefährtin in Gefahr war. „Keine verdammte Chance, dass ich hier warte, bis es dunkel wird. Würdest du das tun, Gideon? Wenn Savannah dich bräuchte – ich meine, auf Leben und Tod bräuchte –, wärst du dann einverstanden mit solchen Glücksspielervorschlägen? Und du, Lucan? Wenn es Gabrielle wäre, da draußen, allein?“
Keiner der Krieger leugnete es: Es gab keinen blutsverbundenen Mann, der für seine geliebte Gefährtin nicht durch einen See aus Feuer gehen würde.
Lucan trat vor und streckte ihm die Hand entgegen. „Du machst ihr alle Ehre.“
Dante ergriff die starke Gen-Eins-Hand seines Anführers – die Hand seines Freundes – und drückte sie fest. „Danke. Aber um ehrlich zu sein, ich tue das genauso für mich wie für Tess. Ich brauche sie in meinem Leben. Sie ist für mich … alles geworden.“
Lucan nickte ernst. „Dann geh und hol sie, mein Bruder. Wir können eure Vereinigung feiern, wenn du und Tess sicher ins Hauptquartier zurückgekehrt seid.“
Dante erwiderte Lucans königlichen Blick und schüttelte langsam den Kopf. „Da ist etwas, das ich mit dir besprechen muss. Mit euch allen“, sagte er und sah sie nacheinander an. „Angenommen, ich überlebe das alles, es gelingt mir, Tess zu retten, und sie nimmt mich als Gefährten an – dann habe ich vor, mit ihr in einen Dunklen Hafen zu ziehen.“
Eine lange Stille folgte. Seine Brüder betrachteten ihn in wohl bemessenem Schweigen.
Dante räusperte sich. Ihm war klar: Seine Entscheidung musste die Krieger, an deren Seite er seit über einem Jahrhundert kämpfte, wie ein Schock treffen. „Sie hat schon genug durchgemacht – schon bevor sie mich traf und ich sie gegen ihren Willen in unsere Welt gezogen habe. Sie hat ein Anrecht auf etwas Glück. Sie hat ein Anrecht auf wesentlich mehr, als ich jemals hoffen kann ihr zu geben. Ich will nur, dass sie in Sicherheit ist, weit weg von jeder Gefahr.“
„Du würdest den Orden für sie verlassen?“, fragte Niko, der Jüngste nach Dante, ein Krieger, der seine Pflicht vielleicht mit größerer Hingabe erfüllte als Dante selbst.
„Ich würde für sie mit dem Atmen aufhören, wenn sie es von mir verlangte“, antwortete er, selbst überrascht von der Tiefe seiner Unterwerfung. Er sah zu Chase, der ihm immer noch den zweiten Gefallen von letzter Nacht schuldete. „Was denkst du? Hast du noch ein paar Verbindungen im Dunklen Hafen von Boston? Kannst du mir helfen, bei der Agency unterzukommen?“
Chase grinste schief und zuckte lässig die Schultern. „Ich könnte.“ Er schritt auf den Waffenschrank zu und nahm sich eine SIG Sauer. „Aber immer schön eins nach dem anderen, okay? Wir müssen deine Frau in einem Stück zurückholen, damit sie sich überhaupt fragen kann, ob sie deinen hässlichen Arsch an ihrer Seite möchte.“
„Wir?“, fragte Dante und sah dem früheren Agenten zu, wie er sich mit der SIG und einer weiteren Semiautomatik bestückte.
„Ja, wir! Ich gehe mit.“
„Was zur …“
„Ich auch“, sagte Niko, trat heran und zog seine eigenen versteckten Waffen hervor. Der Russe grinste breit, als er Lucan, Gideon und Tegan zunickte. „Ihr lasst mich hier unten nicht alleine mit diesen Gen-Eins-Käuzen, oder?“
„Niemand kommt mit mir. Ich habe nicht darum gebeten …“