Mit einem sehr unguten Gefühl, das ihr Herz hämmern ließ, hängte Tess den Hörer ein und machte sich zu Fuß auf, um zur nächsten U-Bahnstation zu wandern. Sie hatte nicht mal die ein Dollar fünfundzwanzig Fahrgeld, die es kostete, bis ins North End zu fahren. Aber eine großmütterliche alte Frau hatte Mitleid mit ihr und schenkte ihr eine Handvoll Kleingeld.
Die Fahrt nach Hause kam ihr endlos vor. Jedes fremde Gesicht im Zug schien sie anzustarren, als wüssten sie alle, dass sie keine von ihnen war und nicht hierher gehörte. Als könnten sie spüren, dass sie sich irgendwie verändert hatte, nicht länger Teil der normalen Welt war. Nicht länger Teil der menschlichen Welt.
Und vielleicht war sie das auch nicht. Tess durchdachte noch einmal alles, was Dante ihr erzählt hatte – und alles, was sie gesehen und worin sie verwickelt gewesen war in den letzten paar Stunden. Den letzten paar Tagen, berichtigte sie sich selbst und dachte an die Halloween-Nacht, als sie Dante tatsächlich zum ersten Mal gesehen hatte.
Als er seine Fangzähne in ihren Hals geschlagen und ihre normale Welt auf den Kopf gestellt hatte.
Aber vielleicht war sie da nicht ganz gerecht. Tess konnte sich an keine Zeit erinnern, wo sie sich je wirklich als Teil irgendeiner normalen Welt gefühlt hätte. Sie war schon immer … anders gewesen. Ihre ungewöhnliche Fähigkeit hatte sie, mehr noch als ihre vertrackte Vergangenheit, stets von anderen Leuten unterschieden und auf Abstand gehalten. Sie hatte sich immer wie eine Ausgestoßene gefühlt, nicht gesellschaftsfähig und außerstande, irgendjemandem ihre Geheimnisse anzuvertrauen.
Bis Dante kam.
Er hatte ihr für so vieles die Augen geöffnet. Er hatte sie Fühlen gelehrt, hatte Verlangen in ihr entfacht auf eine Art, die sie nie zuvor gefühlt hatte. Er hatte ihre Hoffnung geweckt, ihre Hoffnung auf Dinge, von denen sie nur zu träumen gewagt hatte. Mit ihm hatte sie sich sicher und verstanden gefühlt. Schlimmer, sie hatte sich geliebt gefühlt.
Aber das alles war auf Lügen gebaut. Jetzt kannte sie die Wahrheit – unfasslich wie sie war –, und sie würde viel dafür geben, wieder glauben zu dürfen, sie sei nicht real.
Vampire und Blutsverbindungen. Ein eskalierender Krieg zwischen Kreaturen, die nur im Reich der Fantasie, nur in Albträumen existieren sollten.
Und doch war das alles wahr.
Es war Wirklichkeit.
So wirklich wie ihre Gefühle für Dante, was den Schmerz der Enttäuschung nur vertiefte. Sie liebte ihn, und noch nie in ihrem Leben hatte sie etwas so erschreckt. Sie hatte sich in einen gefährlichen Vigilanten verliebt. Einen Vampir.
Diese Einsicht beschwerte ihren Schritt, als sie aus der U-Bahn stieg und sich ihren Weg hoch auf die Straßen ihres North End-Viertels bahnte. In den umliegenden Läden herrschte das geschäftige Treiben morgendlicher Kunden. Der Freiluftmarkt erfreute sich des stetigen Flusses seiner regelmäßigen Besucher. Tess überholte ein Knäuel von Touristen, die stehen geblieben waren, um in Herbstmelonen und Kürbissen zu wühlen. Sie verspürte einen Frost, der wenig mit der kühlen Herbstluft zu tun hatte.
Je näher sie ihrem Heim kam, desto tiefer setzte sich ein böses Gefühl in ihr fest. Einer der Mieter kam gerade aus dem Haus, als sie dort ankam. Obwohl sie den alten Mann nicht beim Namen kannte, lächelte er sie an und hielt ihr die Tür auf. Tess ging hinein und die Treppen zu ihrer Wohnung hoch. Schon aus mehreren Metern Entfernung erkannte sie, dass ihre Tür aufgebrochen worden war. Der Pfosten war neben dem Türknauf angesplittert, als hätte jemand die Tür aufgehebelt und dann sorgsam angelehnt, damit es schien, als wäre alles in Ordnung.
Tess erstarrte, Panik überflutete sie. Sie wich einen Schritt zurück, wollte am liebsten kehrtmachen und wegrennen. Ihr Rücken stieß gegen etwas Festes – jemand stand hinter ihr. Ein kräftiger Arm schlang sich um ihre Hüfte, brachte sie aus dem Gleichgewicht. Kalter, scharfer Stahl presste sich bedeutungsvoll unter ihren Kiefer.
„Morgen, Doc. Höchste Zeit, dass du endlich kommst.“
„Das kannst du nicht ernst meinen, Dante.“
Nahezu alle Krieger, einschließlich Chase, waren in der Trainingsanlage versammelt und sahen zu, wie Dante sich zur Schlacht rüstete.
„Sehe ich aus, als ob ich ein Späßchen mache?“ Dante nahm eine Pistole aus einem der Waffenschränke und schnappte sich eine Handvoll Patronen. „Noch nie in meinem Leben war mir etwas so ernst.“
„Himmel, D. Falls dir das entgangen ist, es ist kurz nach zehn Uhr morgens. Das bedeutet volles Tageslicht.“
„Ich weiß, was es bedeutet.“
Gideon stieß einen tiefen Fluch aus. „Du wirst frittiert, mein Freund.“
„Nicht, wenn ich es verhindern kann.“
Dante, seit dem achtzehnten Jahrhundert unterwegs, war nach menschlichem Ermessen jenseits allen Alters. Für einen Stammesvampir war er gerade Durchschnitt, sein Stammbaum war einige Generationen jünger als der der Alten mit ihrer überempfindlichen Alien-Haut. Er konnte nicht lange bei Tageslicht draußen herumlaufen, aber er konnte eine kleine Dosis UV-Strahlen abbekommen und es überleben.