Sie glaubte nicht, dass sie Grund zur Beunruhigung hatte, doch als sie in den anderen Teil der Klinik hinüberging, überkam sie plötzlich schlagartig eine Erinnerung – das Licht im Lagerraum wurde angeknipst und auf dem Boden lag ein zerschlagener, blutüberströmter Eindringling, der dort zusammengebrochen war. Sofort blieb sie stehen, ihre Füße rührten sich nicht vom Fleck, grell leuchtete das Bild in ihrer Erinnerung auf und verschwand dann genauso schlagartig wieder.
„Hallo?“, rief sie und versuchte, den Hund in ihren Armen nicht zu drücken, als sie aus der verwaisten Zwingerabteilung ging. „Ist da jemand?“
Ein zischender Fluch drang aus dem großen Untersuchungsraum direkt neben dem Empfangsbereich.
„Ben? Bist du das?“
Er kam aus dem Raum, einen elektrischen Schraubenzieher in der Hand. „Tess – um Himmels willen, hast du mich erschreckt. Was machst du hier so früh?“
„Zufällig arbeite ich hier“, sagte sie und runzelte die Stirn, als sie sein gerötetes Gesicht und die dunklen Ringe unter seinen Augen bemerkte. „Und was machst du hier?“
„Ich, äh …“ Mit dem Schraubenzieher machte er eine vage Geste in Richtung des Untersuchungsraumes. „Ich habe neulich bemerkt, dass am Behandlungstisch da drin die hydraulische Hebevorrichtung klemmt. Ich war schon wach, und wo ich doch immer noch den Ersatzschlüssel für die Klinik habe, dachte ich, ich komm vorbei und bring das eben in Ordnung.“
Der Tisch hatte wirklich etwas Justierung gebraucht, aber irgendetwas an Bens verwirrter Erscheinung war nicht richtig. Tess ging auf ihn zu. Als der Hund plötzlich begann, sich in ihren Armen zu regen, kraulte sie ihn sanft. „Konnte das nicht warten, bis wir aufmachen?“
Ben fuhr sich mit der Hand über den Kopf, womit er sein zerrauftes Haar noch weiter in Unordnung brachte. „Wie ich schon sagte, ich war sowieso schon auf. Versuche nur zu helfen, wo ich kann. Wer ist dein kleiner Freund da?“
„Er heißt Harvard.“
„Nette Töle. Bisschen angeschlagen vielleicht. Ein neuer Patient, Doc?“
Tess nickte. „Er kam erst gestern Abend rein. Es ging ihm nicht besonders, aber ich denke, er ist bald über den Berg.“
Ben lächelte, aber sein Gesicht wirkte irgendwie angespannt. „Gestern Abend wieder Überstunden gemacht?“
„Nein. Nicht direkt.“
Er sah von ihr fort, und sein Lächeln bekam einen bitteren Zug.
„Ben, ist es … klar zwischen uns? Ich habe neulich nach der Ausstellung versucht, dich anzurufen, um mich zu entschuldigen. Ich habe dir eine Nachricht hinterlassen, aber du hast mich nicht zurückgerufen.“
„Ja, ich hatte viel um die Ohren.“
„Du siehst müde aus.“
Er zuckte die Schultern. „Mach dir keine Sorgen um mich.“
Er ist mehr als nur müde, dachte Tess jetzt. Ben sah völlig erschöpft aus. Eine nervöse Energie umgab ihn, als hätte er die letzten zwei Nächte kein Auge zugetan. „Was hast du denn in letzter Zeit gemacht? Bist du wieder mit einer Rettungsaktion zugange oder so?“
„Oder so“, sagte er und warf ihr einen schrägen, abweisenden Blick zu. „Hör mal, ich würde zu gern hierbleiben und quatschen, aber jetzt muss ich wirklich los.“
Er steckte den Schraubenzieher in die Hosentasche seiner lose sitzenden Jeans und ging auf den Haupteingang der Klinik zu. Tess folgte ihm, sie spürte eine seltsame Kälte. Zwischen ihnen tat sich eine emotionale Distanz auf, die so noch nie da gewesen war.
Ben log sie an. Und nicht nur in Bezug auf den Grund, warum er in die Klinik gekommen war.
„Danke für die Reparatur“, murmelte sie seinem Rücken zu, der sich schnell von ihr entfernte.
Als er in der offenen Tür stand, sah sich Ben über die Schulter nach ihr um. Sie erschrak, wie ausdruckslos sein Blick war. „Keine Ursache. Pass auf dich auf, Doc.“
Eisige Regentropfen quollen aus einem steingrauen Nachmittagshimmel und klopften unablässig an die Scheiben von Elises Wohnzimmerfenster. Sie zog die Gardinen ihrer Privaträume im zweiten Stock auseinander und starrte auf die kalten Straßen der Innenstadt hinab, auf den Strom von Passanten, die dort unten hin und her eilten, um dem Wetter zu entkommen.
Irgendwo da draußen war auch ihr achtzehnjähriger Sohn.
Er war nun schon seit über einer Woche verschollen. Einer der immer mehr Jugendlichen des Stammes, die aus ihren sicheren Reservaten, den Dunklen Häfen der Gegend, verschwunden waren. Sie betete darum, dass Cam sich an einem sicheren unterirdischen Ort befand, weit weg von den tödlichen Sonnenstrahlen, mit anderen zusammen, die ihm Trost und Unterstützung geben konnten, bis er seinen Weg nach Hause fand.
Sie hoffte, dass er bald nach Hause finden würde.
Dem Himmel sei Dank für Sterling und alles, was er tat, um die Rückkehr ihres Sohnes zu ermöglichen. Elise konnte die Selbstlosigkeit, mit der ihr Schwager sich so vollständig dieser Aufgabe widmete, kaum begreifen. Sie wünschte, Quentin könnte sehen, wie sehr sein jüngerer Bruder sich für ihre Familie einsetzte. Er wäre zutiefst verwundert; wahrscheinlich sogar gedemütigt.
Und was Quentin von ihren Gefühlen halten würde, wagte Elise sich gar nicht auszumalen.