„Scheiße“, zischte Dante. Er hielt sie ein Stück von sich weg und sah sie ernst an. Ekel und Abscheu spiegelten sich in seiner Miene, dann zog er sie wieder liebevoll in seine Arme. „Es war nicht deine Schuld. Du konntest das nicht wissen, Tess.“
„Aber als ich es wusste, musste ich es in Ordnung bringen“, sagte sie und gab ein ironisches, bitteres Lachen von sich. Dante runzelte die Stirn. „Ich musste zurücknehmen, was ich ihm gegeben hatte.“
„Zurücknehmen?“
Sie nickte. „In derselben Nacht habe ich die Tür zu meinem Zimmer offen gelassen und auf ihn gewartet. Ich wusste, er würde kommen, weil ich ihn darum gebeten hatte. Er kam hereingeschlichen, sobald meine Mutter eingeschlafen war. Ich ermunterte ihn, zu mir ins Bett zu kommen. Gott, das war das Schwierigste von allem – ihn nicht merken zu lassen, dass sein Anblick mir den Magen umdrehte. Er streckte sich neben mir aus, und ich sagte ihm, er solle die Augen zumachen, weil ich mich für seinen Geburtstagskuss, den er mir vor einigen Nächten gegeben hatte, erkenntlich zeigen wolle. Ich sagte, er dürfe nicht blinzeln, und er gehorchte mir völlig, weil er so gierig war.
Ich habe mich auf seinen Bauch gesetzt und ihm die Hände auf den Brustkorb gelegt. In Sekundenschnelle schoss all meine Wut, all mein Zorn in meine Hände, wie elektrischer Strom durchfuhr es mich, und dann ging es durch meine Fingerkuppen direkt in ihn hinein. Er riss die Augen weit auf, und da begriff er, was ich von ihm wollte – das zeigte mir der Ausdruck von Entsetzen und Verwirrung in seinen Augen. Aber es war zu spät für ihn, er konnte nichts mehr tun. Ein heftiger Krampf, und sein Herz hörte augenblicklich auf zu schlagen. Ich machte weiter, mit all meiner Entschlossenheit, und ich spürte, wie das Leben aus ihm wich. Ich hab noch zwanzig Minuten weitergemacht, nachdem er längst tot war, nur um sicherzugehen.“
Tess merkte gar nicht, dass sie weinte, bis Dante ihr die Tränen aus dem Gesicht wischte. Sie schüttelte den Kopf, und ihre Stimme würgte in ihrem Hals. „Ich bin noch in dieser Nacht von zu Hause weggegangen. Ich kam hierher nach New England und blieb bei Freunden, bis ich die Schule beendet hatte und ein neues Leben anfangen konnte.“
„Und deine Mutter?“
Tess zuckte die Achseln. „Ich habe nie wieder ein Wort mit ihr gesprochen. Ihr war das egal. Sie hat nie versucht, mich zu finden, und um die Wahrheit zu sagen, ich war froh darüber. Wie auch immer, sie ist vor ein paar Jahren gestorben, an einem Leberleiden, soweit ich weiß. Nach dieser Nacht – nach dem, was ich getan hatte – wollte ich nur noch alles vergessen.“
Dante zog sie wieder an sich, und sie sträubte sich nicht. Vergrub sich in seiner Wärme, erschöpft vom erneuten Durchleben des Albtraums ihrer Vergangenheit. Das alles auszusprechen war hart gewesen, aber jetzt, wo es heraus war, empfand sie ein Gefühl der Befreiung und lindernden Erleichterung.
Gott, war sie erschöpft. Es schien fast, als hätten all die Jahre des Weglaufens und Versteckens sie auf einmal eingeholt, und eine schwere Müdigkeit kam über sie.
„Ich habe mir geschworen, dass ich meine Fähigkeit nie wieder einsetze, bei keinem Lebewesen. Es ist ein Fluch, wie ich dir gesagt habe. Vielleicht verstehst du das jetzt.“
Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie ließ ihnen freien Lauf. Sie vertraute ganz darauf, dass sie in Sicherheit war – zumindest im Augenblick. Dantes starke Arme lagen beschirmend um sie. Seine sanft gemurmelten Worte waren eine Stütze, die sie mehr benötigte, als sie je für möglich gehalten hätte.
„Du hast nichts Schlechtes getan, Tess. Dieser menschliche Abschaum hatte keinerlei Recht auf das Leben, das er führte. Du hast Gerechtigkeit geübt – nach deinen eigenen Möglichkeiten, aber es war Gerechtigkeit. Zweifle nie daran.“
„Du denkst nicht, dass ich eine Art … Monster bin? Kaum besser als er, da ich ihn umgebracht habe, kaltblütig und bewusst?“
„Niemals.“ Dante hob ihr Kinn mit seiner Hand und sah sie an. „Ich finde, dass du mutig bist, Tess. Ein rächender Engel, so sehe ich dich.“
„Ich bin eine Missgeburt.“
„Nein, Tess. Nein.“ Er küsste sie zärtlich. „Du bist erstaunlich.“
„Ich bin ein Feigling. Ich laufe immer weg, genau wie du gesagt hast. Es stimmt. Ich habe Angst und laufe so lange und so weit, dass ich nicht sicher bin, ob ich jemals wieder anhalten kann.“
„Dann lauf zu mir.“ Dantes Blick war ernst, als er ihr fest in die Augen sah. „Ich weiß alles über Angst, Tess. Sie steckt auch tief in mir. Dieser ,Krampfanfall‘, den ich in deiner Klinik hatte, war kein medizinisches Leiden, nicht im Entferntesten.“
„Was war es dann?“
„Der Tod“, entgegnete er dunkel. „Schon solange ich denken kann, habe ich diese Attacken – diese Visionen. Es sind die letzten Minuten meines Lebens. Es ist höllisch und kaum vorstellbar, aber ich kann es sehen, als würde es wirklich passieren. Ich fühle es, Tess. Das ist mein Schicksal.“
„Das verstehe ich nicht. Wie kannst du dir da so sicher sein?“