Sein Lächeln kam schief und ironisch. „Ich bin sicher. Meine Mutter hatte ähnliche Visionen von ihrem Tod und auch vom Tod meines Vaters. Und bei beiden trat der Tod exakt so ein, wie es ihr in ihren Visionen vorher erschienen war. Sie konnte es weder ändern noch abwenden. Also versuche ich, meinem Ende davonzurennen. Ich laufe schon mein Leben lang davor weg. Ich habe mich immer isoliert, mich gegen alles abgeschirmt, was mir Lust machen könnte, langsamer zu werden und wirklich zu leben. Ich habe mir nie Gefühle erlaubt.“
„Gefühle sind gefährlich“, murmelte Tess. Auch wenn sie sich nicht wirklich ausmalen konnte, welchen Schmerz Dante mit sich herumtrug, empfand sie, dass eine Art Verwandtschaft zwischen ihnen wuchs. Beide allein, beide verloren in ihren Welten. „Ich möchte nichts für dich empfinden, Dante.“
„Ach, Tess. Ich will auch nichts für dich empfinden.“
Er hielt ihrem Blick stand, und seine Lippen legten sich auf ihre. Sein Kuss war süß, zärtlich und ein wenig andächtig. Er riss all ihre Mauern ein, die Ziegelsteine ihrer Vergangenheit und ihrer Qual stürzten ins Nichts und ließen sie nackt und bloß zurück, unfähig, sich vor ihm zu verbergen. Tess erwiderte seinen Kuss und wollte mehr. Sie fror bis auf die Knochen, und sie brauchte alle Wärme, die er ihr geben konnte.
„Bring mich ins Bett“, flüsterte sie. „Bitte, Dante …“
Chase betrat seinen Wohnsitz im Dunklen Hafen von der Rückseite. Er hielt es für das Beste, nicht das ganze Haus aufzuscheuchen, indem er rasend wie ein Tier und mit Blut besudelt den Vordereingang benutzte. Elise war oben; er hörte ihre sanfte Stimme im Wohnzimmer der ersten Etage, wo sie und einige Stammesgefährtinnen aus der Gemeinde sich versammelt hatten.
Riechen konnte er sie auch. Seine Sinne waren geschärft von der Wut, die noch immer in ihm kochte. Die Gewalttätigkeit, die er eben ausgelebt hatte, und der feminine Duft der Frau, die er mehr begehrte als alles andere, waren wie eine Droge, die direkt in seine Vene schoss.
Mit einem wilden Fauchen drehte er ab in die entgegengesetzte Richtung, weg von seiner Schwägerin, und steuerte seine eigenen, privaten Räumlichkeiten an. Dort angekommen, trat er die Tür mit einem Fuß zu und fingerte aufgebracht an dem widerspenstigen Reißverschluss seiner Jacke, die von verspritztem Menschenblut ruiniert war. Er legte die Jacke ab und warf sie in den Flur, dann zog er sein Hemd aus und warf es ebenfalls von sich.
Er war eine wandelnde Katastrophe. Blutige Kratzer und Quetschungen verunstalteten seine Hände, mit denen er Ben Sullivan beinahe zu Brei geschlagen hatte. Und dann war da dieser fiebernde, wilde Durst, der ihn anstachelte, irgendetwas zu zerstören, sogar jetzt noch, einige Zeit nach seinem unkontrollierten Wutausbruch. Es war nicht sonderlich klug gewesen, den Crimson-Dealer so anzufallen, aber das Bedürfnis, ein gewisses Maß an Vergeltung zu üben, war übermächtig gewesen.
Chase hatte seinem wilden Urtrieb nachgegeben, was er selten tat. Zum Teufel, hatte er das überhaupt jemals zuvor getan? Er war immer sehr stolz auf seine festen, rechtschaffenen Grundsätze gewesen. Stolz, dass er sich nie von seinen Gefühlen leiten ließ. Dass sein Verstand nicht korrumpierbar war.
Und jetzt hatte er in einem einzigen unachtsamen Moment alles zunichtegemacht.
Zwar hatte er den Dealer nicht umgebracht, aber als er sich auf ihn stürzte, tat er es mit der vollen Absicht, ihn zu töten. Er hatte seine Fangzähne entblößt und sie dem Mann in den Hals geschlagen. Es kümmerte ihn nicht, dass er sich dadurch als Vampir enttarnte. Er hatte ihn übel zugerichtet, aber am Ende seine Wut unter Kontrolle gebracht und den Menschen gehen lassen. Vielleicht hätte er ihm das Gedächtnis löschen sollen, um den Stamm vor Aufdeckung zu schützen. Aber Chase wollte, dass Sullivan sich gut daran erinnerte, was ihn erwartete, wenn er sich nicht an ihre Vereinbarung hielt.
Die ganze Situation war eine grobe Verletzung des Vertrauens, das ihm Dante und die anderen Krieger entgegenbrachten. Aber Chase fand, dass er kaum eine Wahl gehabt hatte. Er brauchte Sullivan auf der Straße, nicht weggeschlossen unter der schützenden Obhut des Ordens. So abstoßend sein Plan auch war, er brauchte Kooperation und Hilfe von diesem Dealer, um Camden zu finden. Es war ein Angebot, das er diesem menschlichen Abschaum machte, und er ließ ihn bei seinem eigenen spritzenden Blut schwören. Sullivan war kein Idiot. Nach der kleinen Kostprobe vampirischer Wut, die er heute bekommen hatte, bettelte er förmlich darum, Chase in jeder nur erdenklichen Weise helfen zu dürfen.