Jetzt war Ben daran beteiligt, bei der Suche zu helfen und sicherzustellen, dass der Bursche in einem Stück wieder nach Hause kam. Bens Leben hing davon ab. Am liebsten würde er spornstreichs aus der Stadt verschwinden – alles hinter sich lassen und vergessen, dass er je das Wort
„Verflucht“, schimpfte er, als Tess’ Telefon auf Anrufbeantworter umschaltete.
Trotz seiner eigenen Sorgen fühlte er sich moralisch verpflichtet, Tess vor dem Kerl zu warnen, mit dem sie sich neuerdings herumtrieb. Bei einem dermaßen psychopathischen Kumpel war der andere sicher mindestens genauso gefährlich, da ging Ben jede Wette ein.
Als nach der Ansage des Anrufbeantworters der Piepton kam, berichtete Ben hastig von den Ereignissen der Nacht, angefangen damit, dass ihm die zwei Schlägertypen bei seiner Wohnung aufgelauert hatten. Er schilderte, wie ihn der eine vorhin angefallen hatte. Dann gestand er, dass er sie mit dem anderen gesehen hatte und um ihr Leben fürchtete, wenn sie den Kerl weiterhin traf.
Er hörte seine eigene Stimme – atemlos, gehetzt, am Rande der Hysterie und eine Tonlage schriller als gewöhnlich. Als endlich alles heraus war, knallte er den Hörer auf die verschrammte Gabel und merkte, dass er kaum noch Luft bekam. Er lehnte sich an die mit Graffiti beschmierte Wand der Telefonzelle, beugte sich vornüber, schloss die Augen und versuchte, sein durchgeknalltes Nervensystem unter Kontrolle zu bringen.
Eine Flut von Gefühlen überschwemmte ihn, Panik, Schuld, Hilflosigkeit, knochentiefes Entsetzen. Er wollte alles ungeschehen machen – die vergangenen Monate; alles, was passiert war; alles, was er getan hatte. Wenn er doch nur zurückgehen und die Dinge löschen könnte, sie richtigstellen. Ob Tess dann mit ihm zusammen sein würde? Er wusste es nicht. Und es war auch verdammt egal, weil er nichts davon ungeschehen machen konnte – im wirklichen Leben gab es keine Rückgängig-Taste.
Das Beste, worauf er jetzt noch hoffen konnte, war zu überleben.
Ben holte tief Luft und zwang sich wieder in eine aufrechte Position. Er drückte sich aus der Telefonzelle und trottete die finstere Straße entlang. Er sah wohl aus wie der Leibhaftige, denn ein Obdachloser wich vor ihm zurück, als er die Fahrbahn überquerte und Richtung Hauptstraße humpelte. Im Gehen zog er das Foto des Jungen hervor, nach dem er Ausschau halten sollte.
Er starrte auf den blutbespritzten Schnappschuss, versuchte sich das Bild einzuprägen. So hörte er den sich nähernden Wagen erst, als das Fahrzeug ihn fast überrollte. Bremsen kreischten, und das Auto kam abrupt zum Stehen. Die Türen öffneten sich gleichzeitig und ein Trio ungemütlich aussehender Rausschmeißertypen sprang heraus.
„Kleiner Spaziergang, Mr. Sullivan?“
Ben schaltete erschrocken auf Fluchtmodus um, schaffte aber keine zwei Schritte, bevor er an Armen und Beinen gepackt wurde. Er sah die Fotografie auf dem nassen Asphalt landen und einen schweren Stiefel drauftrampeln, als die Männer ihn zu dem wartenden Auto schubsten.
„Wir sind froh, Sie endlich ausfindig gemacht zu haben“, sagte eine Stimme, die menschlich klang, es aber irgendwie nicht war. „Als Sie zu unserer Verabredung heute Nacht nicht erschienen sind, war der Meister sehr ungehalten. Es wird ihn freuen zu hören, dass Sie jetzt auf dem Weg sind.“
Ben wehrte sich, aber es war zwecklos. Sie stießen ihn in den Kofferraum, warfen die Heckklappe zu und tauchten ihn in Dunkelheit.
Es kam Tess vor, als strahlten die Farben der frühen Morgendämmerung leuchtender als sonst. Die frische Novemberluft wirkte belebend, als sie den kurzen Spaziergang mit Harvard beendete. Als sie und der Terrier die Stufen zu ihrer Wohnung hinaufliefen, fühlte sie sich stärker, leichter, spürbar befreit von den schrecklichen Geheimnissen, die sie all die Jahre für sich behalten hatte.
Sie musste Dante dafür dankbar sein. Sie musste ihm für so vieles dankbar sein, dachte sie mit klopfendem Herzen, und ihr Körper summte noch von dem süßen Kater ihrer Liebesnacht.
Sie war sehr enttäuscht, als sie beim Aufwachen feststellte, dass er schon gegangen war. Aber die Nachricht, die er gefaltet auf dem Nachttisch für sie hinterlassen hatte, nahm ihrer Enttäuschung die Spitze. Tess zog den Zettel aus ihrer Hosentasche, sobald sie die Wohnungstür geöffnet und Harvard von der Leine gelassen hatte.
Sie schlenderte in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen, und las die Nachricht mit Dantes ausgeprägter Handschrift zum zehnten Mal mit einem breiten Grinsen im Gesicht.