Luet streckte die Hand aus und berührte sanft die Haut der Schwingen. Sie war haarlos und glatt, wie Schuhleder, aber viel leichter. Federnder.
Der Engel schien auf mehr zu warten, doch als es nicht kam, drehte er sich um und sah sie an.
»Poto«, sagte Luet erneut. Und nun reichte sie ihm die Hand, zeigte ihm die geöffnete Handfläche.
Er betrachtete ihre Hand und schaute dann von einem Gesicht zum anderen, versuchte, irgendeine Bedeutung darin zu finden. Vielleicht fand er eine, über die sie nicht mal Vermutungen anstellen konnten, oder er kam einfach darauf, was die Geste bedeuten mußte. Doch schließlich beugte er den Körper hinab, bis seine Wange auf ihrer Handfläche lag. Als hätte Luet es von Anfang an so beabsichtigt, legte sie sanft auch die andere Hand auf sein Gesicht, drückte die Handfläche gegen die andere Wange. Sie verweilte nur für einen Augenblick in dieser Haltung und hob die Hand dann wieder.
Der Engel sprach leise, aber nicht zu ihr, sondern zu seinem Zwilling.
»pTo, sie hat sich zu meiner Tante gemacht. Sie hat mich wahrhaftig umschlossen, auch von der Seite.«
»Oh, Poto, möge unser ganzes Volk eine solche Gabe von den Alten bekommen«, antwortete pTo aus dem Bett hinter ihm.
»Der im Bett betet darum, daß sein ganzes Volk so eine Segnung von den Alten bekommt«, sagte Ojkib.
»Sehr schön«, bemerkte Schedemei.
»Das reicht nicht«, sagte Luet. »Ich will nicht, daß wir für diese Wesen Götter sind.«
Und sie bückte sich vor ihm und ermöglichte es ihm, ihren Kopf zwischen die Hände zu nehmen.
»Was soll ich tun, pTo?« rief Poto in höchster Not. »Sie verbeugt sich vor mir wie vor einem Vater und neigt ihren Kopf nicht mal zur Seite.«
»Wenn die Alte verlangt, daß du ihr Vater bist, dann sei es eben!« sagte pTo. »Mach sie nicht wütend! Sie sind schrecklich, wenn sie wütend sind.«
»Aber ich kann nicht ihr Vater sein«, sagte Poto. »Das wäre nicht richtig.«
»Es
»Und woher weißt du das, gebrochene Schwinge?«
»Er ist tot, Poto. Ich weiß es. Ich habe es gesehen, als ich schlief. Ich habe es in meinen Träumen gesehen.«
»Du hast noch nie das Gesicht der Alten gesehen, die vor mir kniet.«
»Ich habe auch sie gesehen. Ich habe sie alle gesehen.« Es entsprach der Wahrheit. pTo hatte sich bis jetzt nicht daran erinnert, bis zu dem Augenblick, da er die Erinnerung brauchte, und da kam sie wie eine Flutwelle zurück. Er hatte in seinen Träumen all ihre Gesichter gesehen. Sogar das des Wütenden, nur daß er nicht wütend, sondern von Kleinen umgeben war, seinen Kindern. Und aufgrund ihrer Stimme erkannte er, wer diese Alte war. Er hatte sie gesehen, wie sie beide seiner eigenen erstgeborenen Kinder auf den Schultern trug. »Sie wird eines Tages auf einer Wiese im Dorf stehen, und meine Kinder werden auf ihren Schultern stehen.«
»Na schön«, sagte Poto. »Dann nehme ich sie als meine Nichte an.«
»Tochter«, sagte Poto. »Sie hat keinen Vater. Du wirst jetzt ihr Vater sein.«
»Ich habe keine Frau«, sagte Poto. »Welche Frau wird mich heiraten, wenn sie dabei die Mutter einer Alten werden muß?«
»Diejenige, die deine Frau sein
»Sie klingen aufgeregt«, murmelte Luet.
»Bleibe einfach, wo du bist«, sagte Ojkib. »Ich bekomme einen Teil davon mit. Ich glaube, als du seinen Kopf zwischen die Hände genommen hast, hast du ihn damit zu einem Verwandten gemacht. Du hast ihn unter deinen Schutz genommen. Und jetzt bittest du ihn,
»Hm«, machte Luet. »Vielleicht ist das keine so gute Idee.«
»Tu es«, sagte Schedemei. »Bleibe einfach stehen und lasse ihn entscheiden.«
Das Gespräch zwischen den beiden endete. Und dann breitete Poto die Schwingen aus, doch statt sie um Luets Kopf zu legen, umschloß er ihren gesamten Körper damit. Sie fühlte die federleichte Umhüllung. Sie wußte, wenn sie einen Arm bewegte, würde sie die betreffende Schwinge zerreißen; aber sie wußte auch, sollte sie die Schwinge dieses Geschöpfs zerreißen, würde dies nicht ihn, sondern sie vernichten.
»Er betet, daß er dir ein guter Vater sein kann«, sagte Ojkib.
»Vater?« fragte Luet.
»Er sagt, er hoffe, den Platz deines alten Vaters einnehmen zu können, der an einem fernen Ort starb.«
»Was?« sagte Chveja. »Mutter, wie kann er das wissen?«
»Er sagt, er wird nicht sterben, außer, wenn er sterben kann, während er dich vor den hungrigen Teufeln verteidigt. Ich glaube, das gehört bei einer Adoption zu den rituellen Redewendungen. Aber du bist natürlich kein Kleinkind mehr.«
»Kannst du mir das Wort für
»Hm«, machte Ojkib. »Mal sehen … falls er es noch einmal sagt, während ich lausche …«
Der Engel sprach erneut.
»Bet«, sagte Ojkib.
»Was?« fragte Chveja.
»Das Wort lautet