Ohne ein Wort der Erklärung verabschiedete er sich von Volemak und Luet und flog mit dem Beiboot des Schiffes zu einem Ort, von dem die Vermessungskarten zeigten, daß man dort Gold finden konnte. Es war eine reiche Ader, die durch die großen Auffaltungen und Umwälzungen, die in den letzten vierzig Millionen Jahren stattgefunden hatten, an die Oberfläche getreten war. Nafai war mit den Metallwerkzeugen aus dem Lagerraum des Schiffes ausgestattet, und in zwei Tagen einsiedlerischer Arbeit schürfte er mehrere Pfund massiven Goldes aus der freiliegenden Ader im Berghang. Einen Tag verbrachte er damit, es zu veredeln. Dann goß er es unlegiert zu flachen, glatten Platten, wobei er die unzerstörbare Metalloberfläche des Beibootes als Amboß benutzte. Das Metall war sehr dünn, aber aufeinandergelegt auch sehr schwer. Er brauchte drei Tage, um die Goldplatten herzustellen, und während dieser Zeit machte er nur gelegentliche Pausen, um Nahrung zu sammeln, die er ohne Schwierigkeiten in der Umgebung fand. Er war hungrig; aber die Arbeit, die er tat, war ihm wichtiger als das Essen.
Er fand bei seinen ersten Experimenten heraus, daß man die geschwungenen Linien des Alphabets, das seit so vielen Jahrtausenden auf Harmonie gebräuchlich war, einfach nicht mit der Hand in das Gold schreiben konnte. Er mußte für die Buchstaben eckigere Formen finden, gleichzeitig aber dafür sorgen, daß man sie auseinanderhalten konnte. Und die Rechtschreibung war zu kompliziert, und es waren zu viele Buchstaben erforderlich, um die Laute auszudrücken. Also veränderte er sie und erfand fünf neue Buchstaben, die für Laute standen, die vorher jeweils zwei Buchstaben erfordert hatten. Das Ergebnis bestand eindeutig in einer Verdichtung der geschriebenen Sprache, und während er den Text verfaßte, verdichtete er sie noch mehr, indem er nur ein paar Buchstaben benutzte, die für die gebräuchlichsten Wörter standen.
Wie kann ich es wagen, die Sprache dermaßen zu verändern? fragte er sich. Wer konnte sie jetzt noch verstehen?
Offensichtlich konnte diese Sprache nur von jenen problemlos gelesen werden, die man lehrte, sie zu schreiben und zu sprechen, und die daher wissen würden, was die Symbole bedeuteten. Doch vielleicht genauso wichtig war, daß jeder, der gelernt hatte, die Schrift zu lesen, in der die Buchstaben gehalten waren, die er ins Gold drückte, auch den Großteil der Buchstaben entschlüsseln konnte, aus denen die Sprache von Harmonie bestand — die Sprache der Computerbibliothek des Schiffes. Zumindest, bis die Sprache sich veränderte, konnten seine Nachkommen also ihr literarisches Erbe bewahren, falls sie es tatsächlich einmal wiederentdecken sollten.
Gold. Wie passend für einen solchen Schatz, wie dieses Buch einst einer sein würde. Zumindest hoffte er das. Doch er benutzte es nicht wegen des Wertes von Gold als Tauschmittel, sondern aus denselben Gründen, aus denen Gold während des Großteils der menschlichen Geschichte beim Prägen von Münzen Verwendung gefunden hatte. Es war weich. Es konnte geformt werden. Doch es war nicht so weich, daß es seine Form nicht bewahren konnte. Und es korrodierte und zerfiel nicht, es lief nicht an und verdarb nicht. Wenn Nafai schon längst tot war, würde es diese Buchstaben auf den Seiten seines Metallbuches noch immer geben.
Er legte die goldenen Seiten und das übriggebliebene Gold ins Beiboot und flog nach Hause. Nachdem er das Beiboot im Schiff abgestellt hatte, erklärte er nicht, wo er gewesen war oder was er getan hatte. Er wollte niemanden täuschen. Und es war nicht so, daß er kein Vertrauen in Vater oder Mutter, Luet oder die anderen gehabt hätte. Es war ihm lediglich unangenehm, darüber zu sprechen. Sie würden sein Vorgehen für albern halten.
Nein, das war es nicht. Daran lag es keineswegs, und das wußte er auch. Als er dort im Licht der Lampe saß und arbeitete und der Docht flackerte, während er im Tongefäß auf dem geschmolzenen Fett schwamm, fühlte er die Macht dessen, was er tat. Ich stelle mich selbst und meine Sicht der Dinge, die uns widerfahren sind, für die Zukunft dar. Eines Tages wird die Version der Ereignisse, die ich geschrieben habe, die einzige sein, die man noch kennt. Unsere Nachfahren werden uns durch meine Augen und keine anderen sehen. So werde ich in ihren Erinnerungen weiterleben. Ich werde es sein, der in das Ohr dieses großen Herrschers flüstert — falls es ihn jemals geben wird, falls dieses Buch erhalten bleibt, falls wirklich Weisheit in ihm ist.
Das Verfassen dieser goldenen Seiten wird mich unsterblich machen. Wenn alle anderen tot sind, werde ich noch leben und leuchten. Deshalb halte ich es geheim. Deshalb behalte ich es für mich. Es ist herzlos und egoistisch von mir.
›Nein, das ist es nicht.‹
Ich kenne mich doch. Ich schäme mich nicht einzugestehen, daß meine Motive unrein sind.