Doch er gab die Idee sofort auf. Wenn wir uns je mit den Alten anfreunden sollten, werden sie sich an die Halme erinnern, die ich von ihrer Wiese gestohlen habe. Dann werde ich die Buße dafür auf mich nehmen. Aber mein Volk wird bereits wissen, daß mein Diebstahl bemerkt wurde. Sie werden wissen, daß ich ihnen in jeder Hinsicht die Wahrheit gesagt habe. Ich gestehe den Fehler ein, mich gezeigt zu haben. Viele werden mich meiner Achtlosigkeit wegen schelten — aber keiner wird bezweifeln, daß ich ehrlich bin, oder behaupten, ich hätte meine Geschichte verändert, damit ich gut dastehe. Es ist besser, das Vertrauen des Volkes statt seinen Respekt zu haben. Mit Vertrauen kann ich mir den Respekt der Leute später verschaffen; ohne Vertrauen kann ich mir ihren Respekt nie verdienen, und bekäme ich ihn trotzdem, wäre er wie Gift.
Müde vom langen Ausharren, voller Angst vor seiner Heimkehr, arbeitete pTo sich höher, die Schlucht hinauf, dem Tal entgegen, in dem das Volk wohnte.
Ojkib beobachtete die riesige Fledermaus, die einen Kreis zog und dann die Schlucht entlang flog. Er wußte, daß dies für die anderen den Anfang der Erfüllung der alten Träume bedeutet hätte, die der Hüter der Erde geschickt hatte. Aber für Ojkib war es etwas anderes. Er hatte die Stimme des Hüters gehört, der zu diesem Besucher gesprochen hatte — und er hatte sie verstanden.
Die Stimme des Hüters war seltsam. Sie war leiser als die der Überseele, nicht so klar. Sie sprach eher in Bildern als in Begriffen, mehr mit Begierden statt mit Gefühlen. Es fiel Ojkib schwer, diese Stimme zu verstehen. Nachdem sie auf der Erde gelandet waren, hatte er mehrere Wochen gebraucht, bis er begriffen hatte, daß es die Stimme des Hüters tatsächlich gab. Die Gespräche zwischen Menschen und der Überseele waren um so vieles lauter, daß die Stimme des Hüters wie ein ferner Donner war oder wie eine leichte Brise in den Blättern — Ojkib fühlte sie eher, als daß er sie hörte. Doch nachdem er sie endlich bemerkt hatte und eine Vorstellung davon bekommen hatte, um was es sich handelte, lauschte er bewußt darauf. Wenn er in der zunehmenden Dämmerung im Schatten des Sternenschiffes saß, konnte er sich konzentrieren und die lautere Stimme der Überseele allmählich in den Hintergrund drängen.
Es war besonders schwer, da der Hüter nicht oft zu den Menschen sprach. Dann und wann ein Traum, manchmal ein Begehren; und die Träume kamen nicht oft zu Zeiten, da Ojkib sie problemlos hören konnte. Doch der Hüter führte einen fast ununterbrochenen Dialog mit jemand anderem. Mit vielen anderen, die das Dorf Rodina umsäumten — aber wie fern oder nah sie waren, konnte Ojkib nicht sagen. Das eigentliche Problem bestand darin, das Gesagte zu verstehen. Die Träume, die Begierden, die er belauschte, ergaben keinen Sinn. Zuerst dachte er, es wäre einfach eine Frage der Verwirrung. Es waren zu viele, und darin läge das Problem. Doch als er dann allmählich einen Traum vom andern unterscheiden konnte, einem speziellen Kommunikationsfaden folgte, wurde ihm klar, daß die Fremdartigkeit in den Nachrichten begründet lag. Der Hüter spornte diese anderen mit Begierden an, die Ojkib niemals empfunden hatte, die er nicht verstehen konnte. Und dann kam plötzlich ein klarer Gedanke: die Begierde, sich um ein Kind zu kümmern. Der Wunsch, vor seinen Freunden nicht in eine peinliche Lage versetzt zu werden. Und je länger Ojkib lauschte, desto deutlicher erfaßte er, worum es sich bei diesen fremdartigen Begierden handelte: die Begierde zu wühlen, der Drang, mit den Händen an Holz zu reißen. Der Drang, sich mit Ton zu beschmieren. Das alles ergab keinen Sinn. Doch als Ojkib im Schatten des Schiffes saß und sich seines Menschseins entkleidete, fegten diese Begierden über ihn hinweg, und er kam sich … anders vor. Als wäre er nicht mehr er selbst.
Er und Chveja hatten neulich darüber nachgedacht, denn auch sie hatte aus den Augenwinkeln flüchtige Blicke auf etwas erhascht, auf unerklärliche Fäden, die nicht die Menschen untereinander verbanden. »Und doch kann ich so etwas wohl kaum sehen«, hatte sie zu Ojkib gesagt. »Ich sehe nur die Fäden zwischen den Menschen, die ich sehen kann oder die ich zumindest kenne. Und doch habe ich niemanden gesehen, zu dem diese Fäden gehören könnten.«
»Oder du hast sie aus den Augenwinkeln gesehen«, hatte Ojkib als Erklärung vorgeschlagen. »Sie gesehen, ohne zu wissen, was du gesehen hast.«
»Wenn das der Fall ist, haben sich Dutzende von ihnen um das Dorf und die Felder versammelt, und wir haben sie nicht gesehen. Kein einziges Mal. Das ist eine ziemlich dumme Vorstellung.«
»Aber sie
»Aber in weiter Ferne. Du hast gesagt, was du gehört hast, sei sehr schwach gewesen.«
»Verglichen mit der Überseele, mehr nicht. Als würde ich versuchen, ein fernes Konzert zu hören, während jemand direkt neben mir auf der Querpfeife spielt.«
»Siehst du? Du hast es selbst gesagt — ein fernes Konzert.«
»Was ist, falls uns tatsächlich jemand beobachtet?«