Der frische Hauch des Abends wehte vom Friedhof durch das offene Fenster ins Zimmer. Ich saß still da, ich hatte nichts vergessen vom Nachmittag, ich wusste alles noch genau, – aber wenn ich zu Pat hinübersah, dann spürte ich, wie die dumpfe Traurigkeit, die wie ein Stein in mich heruntergesunken war, immer wieder überspült wurde von einer wilden Hoffnung, wie sie sich wandelte und sich seltsam damit vermischte, wie eines zum anderen wurde, die Traurigkeit, die Hoffnung, der Wind, der Abend und das schöne Mädchen zwischen den beglänzten Spiegeln und Leuchtern, ja, ich hatte einen Augenblick lang plötzlich das sonderbare Empfinden, als ob erst das wirklich und in einem sehr tiefen Sinne das Leben sei und vielleicht sogar das Glück: Liebe mit so viel Schwermut, Furcht und schweigendem Wissen.
XIX
Ich stand am Parkplatz und wartete. Gustav kam mit seinem Wagen heran und stellte sich hinter mir auf. „Was macht der Köter, Robert?” fragte er.
„Dem gehts großartig”, sagte ich.
„Und dir?”
Ich winkte missmutig ab. „Mir würde es auch großartig gehen, wenn ich mehr verdiente. Stell dir vor, zwei ganze Fünfzigpfennigfuhren heute”
Er nickte. „Es wird immer schlechter. Alles wird immer schlechter. Was das bloß noch geben soll!”
„Dabei müsste ich so notwendig Geld verdienen!” sagte ich. „Gerade jetzt! Viel Geld.”
Gustav kratzte sich am Kinn. „Viel Geld!” Dann sah er mich an. „Reell ist nirgendwo viel Moos[135]
zu holen, Robert. Nur durch Spekulationen. Wie wäre es mit dem Toto[136]? Heute sind Rennen. Ich weiß da einen erstklassigen Laden. Habe neulich mal achtundzwanzigfaches Geld gemacht auf Aida[137].”„Was, ist mir egal. Hauptsache ist, dass eine Chance da ist.”
„Hast du schon mal getippt[138]
?”„Nein.”
„Dann hast du die Kinderhand![139]
Damit ist was zu machen.” Er sah nach der Uhr. „Wollen wir los? Schaffen es gerade noch.”„Gut!” Seit dem Hund hatte ich Vertrauen zu Gustav.
Das Wettbüro war ein ziemlich großer Raum. Rechts war ein Zigarrenladen abgeteilt, links befand sich der Totalisator.
Zu meinem Erstaunen herrschte mächtiger Betrieb.
Gustav studierte bereits die Rennlisten. „Wann kommt Auteuil raus?” rief er zur Theke hinüber.
„Fünf Uhr”, quakte der Gehilfe.
Gustav studierte wieder. „Wir setzen als Anfang jeder zwei Eier[140]
auf Tristan, Sieg”, erklärte er mir.„Hast du denn eine Ahnung davon?” fragte ich.
„Ahnung??” fragte Gustav zurück. „Ich kenne jeden Pferdehuf.”
Er rief unsere Sätze zu dem Mann am Pult hinüber. Wir erhielten einen Zettel und setzten uns vorn in das Lokal, wo ein paar Tische und Stühle standen.
Das Telefon schrillte. Alles spitzte die Ohren. Der Gehilfe rief die Namen aus. Von Tristan war weit und breit nichts zu hören. „Verdammt”, sagte Gustav und lief rot an, „Salomon[141]
hats gemacht. Wer hätte das gedacht, Sie etwa?” fragte er ärgerlich das Fleißige Lieschen[142].Von Bieling erschien zwischen uns. „Meine Herrschaften, hätten Sie auf mich gehört – Salomon hätte ich Ihnen gesagt! Nur Salomon! Wollen Sie zum nächsten Rennen – ”
„Verstehen Sie was von Pferden?” fragte Bieling mich.
„Nichts”, sagte ich.
„Dann setzen Sie! Setzen Sie! Aber nur heute”, fügte er flüsternd hinzu, „und nie wieder. Hören Sie auf mich. Setzen Sie – es ist ganz egal – König Lear oder Silbermotte – vielleicht auch L’heure bleue[143]
. Ich will nichts verdienen. Geben Sie mir nur etwas, wenn Sie gewinnen.” Er zitterte mit dem Kinn vor Spielleidenschaft. Ich kannte die Regel vom Poker her: Anfänger gewannen oft. „Schön”, sagte ich, „worauf?”„Was Sie wollen – was Sie wollen – ”
„L’heure bleue klingt nicht häßlich”, sagte ich, „also zehn Mark auf L’heure bleue.”
Bieling sah mich beschwörend an und machte mir Zeichen.
„Sieg”, sagte ich.
„Lass dir begraben[144]
”, grunzte das Fleißige Lieschen verächtlich.„Mensch!” Auch Gustav sah mich an, als ob ich mich in einen Hottentotten verwandelt hätte.
„Ich bleibe bei meiner L’heure bleue”, erklärte ich. Es wäre gegen alle geheimen Glücksrittergesetze gewesen, jetzt noch zu wechseln.
Der Mann mit dem lila Hemd übergab mir meinen Zettel.
Das Telefon klingelte. „Das nennt die Welt Schwein[145]
!” hörte ich plötzlich Gustav schmettern. „Herrschaften, das ist schon mehr als Schwein, das ist eine Riesenmuttersau mit zwanzig Ferkeln!” Er schlug mir auf die Schulter. „Hundertachtzig Eier hast du getrudelt[146], Mann Gottes! Dein Hottehü[147] mit dem komischen Namen hats gemacht!”„Was, tatsächlich?” fragte ich.
Einen Augenblick entstand völlige Stille im ganzen Raum. Alles sah zu. Sogar der unentwegte Esser hob den Kopf.
Ich steckte die Scheine ein. „Aufhören!” flüsterte Bieling. „Aufhören!” Er hatte rote Flecke im Gesicht. Ich schob ihm zehn Mark in die Hand.
Um sieben Uhr fuhr ich in die Werkstatt zurück. Karl stand auf dem Hof und röhrte. „Gut, dass du kommst, Robby”, rief Köster, „wir wollen gerade raus und ihn ausprobieren! Steig ein.”