Ein neuer Knäuel stürzte heran und plötzlich sahen wir, drei Meter vor uns, den gelben Schopf Gottfrieds in den Händen eines tobenden Schnauzbarts.
Köster duckte sich und verschwand in dem Haufen. Ein paar Sekunden später ließ der Schnauzbart Gottfried los, warf mit einer Miene äußersten Erstaunens die Arme hoch und fiel wie ein entwurzelter Baum in die Menge zurück. Gleich darauf entdeckte ich Köster, der Lenz am Kragen hinter sich herschleppte.
Lenz wehrte sich. „Lass mich nur noch einen Augenblick hin, Otto”, keuchte er.
„Unsinn”, rief Köster, „die Schupo kommt sofort! Los, da hinten rauf.” Wir liefen über den Hof, dem dunklen Seiteneingang zu. Es war keinen Augenblick zu früh. Im gleichen Moment schrillte jähes Pfeifen über den Hof, die schwarzen Tschakos der Schupo blitzten auf und die Polizei riegelte den Hof ab. Wir rannten die Treppe hinauf, um nicht mit zur Wache geschleppt zu werden. Von einem Flurfenster aus sahen wir, wie es weiterging. Die Schupo arbeitete glänzend. Sie sperrte ab, trieb einen Keil in den Knäuel, riss die Haufen auseinander, löste sie auf und begann sofort abzutransportieren. Als ersten den verblüfften Zimmermann, der vergeblich etwas zu erklären suchte. Hinter uns schnappte eine Tür. Eine Frau im Hemd, mit bloßen, dünnen Beinen, eine Kerze in der Hand, steckte den Kopf heraus. „Bist du da?” fragte sie mürrisch.
„Nein”, sagte Lenz, der sich erholt hatte. Die Frau warf die Tür zu. Lenz leuchtete mit seiner Taschenlampe die Tür ab. Es war der Maurerpolier Gerhard Peschke, der hier erwartet wurde.
Unten wurde es still. Die Schupo zog ab und der Hof wurde leer. Wir warteten noch etwas, dann gingen wir die Treppen hinunter. Hinter einer Tür weinte ein Kind. Es weinte leise und klagend im Dunkel. „Recht hat es”, sagte Gottfried. „Es weint im voraus.”
Wir gingen die Straße entlang. Ein paar Leute kamen uns auf der anderen Seite entgegen. Es waren vier junge Burschen. Einer trug hellgelbe, neue Ledergamaschen, die andern eine Art von Militärstiefeln. Sie blieben stehen und sahen zu uns herüber. „Da ist er!” rief plötzlich der mit den Gamaschen und lief schräg über die Straße auf uns zu. Im nächsten Augenblick krachten zwei Schüsse, der Bursche sprang weg und alle vier rissen aus, so schnell sie konnten. Ich sah, wie Köster zum Sprung ansetzte, aber dann in einer merkwürdigen Drehung abbog, die Arme ausstreckte, einen gepressten, wilden Laut ausstieß und Gottfried Lenz aufzufangen versuchte, der schwer aufs Pflaster schlug.
Eine Sekunde dachte ich, er sei nur gefallen; dann sah ich das Blut. Köster riss ihm die Jacke auf, zerrte das Hemd weg, – das Blut quoll dick hervor. Ich presste mein Taschentuch dagegen. „Bleib hier, ich hole den Wagen”, rief Köster und rannte los.
„Gottfried”, sagte ich, „hörst du mich?”
Sein Gesicht wurde grau. Die Augen waren halb geschlossen. Die Lider bewegten sich nicht. Ich hielt mit der einen Hand seinen Kopf, mit der anderen drückte ich das Taschentuch auf die blutende Stelle. Ich kniete neben ihm, ich lauschte auf sein Röcheln, seinen Atem, aber ich hörte nichts, lautlos war alles, die endlose Straße, die endlosen Häuser, die endlose Nacht, – ich hörte nur leise klatschend das Blut auf das Pflaster fallen und wusste, dass das schon einmal so gewesen sein musste und dass es nicht wahr sein konnte.
Köster raste heran. Er riss die Lehne des linken Sitzes nach hinten herum. Wir hoben Gottfried vorsichtig hoch und legten ihn auf die beiden Sitze. Ich sprang in den Wagen und Köster schoss los. Wir fuhren zur nächsten Unfallstelle. Köster bremste vorsichtig. „Sieh nach, ob ein Arzt da ist. Sonst müssen wir weiter.”
Ich lief hinein. Ein Sanitäter kam mir entgegen. „Ist ein Arzt da?”
„Ja. Habt ihr jemand?”
„Ja. Kommen Sie mit ran! Eine Tragbahre.”
Wir hoben Gottfried auf die Bahre und trugen ihn hinein. Der Arzt stand schon in Hemdärmeln bereit.
„Hierher!” Er zeigte auf einen flachen Tisch. Wir hoben die Bahre hinauf. Der Arzt zog eine Lampe herunter, dicht über den Körper.
„Was ist es?”
„Revolverschuss.”
Er nahm einen Bausch Watte, wischte das Blut fort, griff nach Gottfrieds Puls, horchte ihn ab und richtete sich auf. „Nichts mehr zu machen.”
Köster starrte ihn an. „Der Schuss sitzt doch ganz seitlich. Es kann doch nicht schlimm sein!”
„Es sind zwei Schüsse!” sagte der Arzt.
Er wischte wieder das Blut weg. Wir beugten uns vor. Da sahen wir, dass schräg unter der stark blutenden Wunde eine zweite war, – ein kleines dunkles Loch in der Herzgegend.
„Er muss fast augenblicklich tot gewesen sein”, sagte der Arzt. Köster richtete sich auf. Er sah Gottfried an. Der Arzt bedeckte die Wunden mit Tampons und klebte Heftpflasterstreifen darüber. „Wollen Sie sich waschen?” fragte er mich.
„Nein”, sagte ich.
Gottfrieds Gesicht war jetzt gelb und eingefallen. Der Mund war etwas schief gezogen, die Augen waren halb geschlossen, das eine etwas mehr als das andere. Er sah uns an. Er sah uns immerfort an.
„Wie ist es denn gekommen?” fragte der Arzt.