Auf dem Podium stand ein kräftiger, untersetzter Mann und redete. Er hatte eine volle Bruststimme, die mühelos in den entferntesten Winkeln verständlich war. Es war eine Stimme, die überzeugte, ohne dass man viel darauf achtete, was sie sagte. Und was sie sagte, war leicht verständlich. Der Mann ging auf der Bühne umher, ungezwungen, mit kleinen Armbewegungen, ab und zu trank er einen Schluck Wasser und machte einen Witz. Dann aber stand er plötzlich still, voll dem Publikum zugekehrt, und peitschte mit veränderter, greller Stimme Satz um Satz hinaus, Wahrheiten, die jeder kannte, von der Not, vom Hunger, von der Arbeitslosigkeit, sich immer weiter steigernd, die Zuhörer mitreißend, bis er in einem Furioso[165]
herausschmetterte: „Das kann nicht so weitergehen! Das muss anders werden!”Das Publikum tobte Beifall, es klatschte und schrie, als sei damit schon alles anders geworden.
Ich sah mir die Zuhörer an. Es waren Leute aller Berufe: Buchhalter, kleine Gewerbetreibende, Beamte, eine Anzahl Arbeiter und viele Frauen. Sie saßen jetzt da in dem heißen Saal, zurückgelehnt oder vorgebeugt, Reihe an Reihe, Gesicht neben Gesicht, der Strom der Worte spülte über sie hin und es war sonderbar: so verschieden sie auch waren, die Gesichter hatten alle den gleichen, abwesenden Ausdruck, einen schläfrigsüchtigen Blick in die Ferne einer nebeligen Fata Morgana, es war Leere darin und zugleich eine übermächtige Erwartung, die alles auslöschte, Kritik, Zweifel, Widersprüche und Fragen, den Alltag, die Gegenwart, die Realität. Der da oben wusste alles; – er hatte für jede Frage eine Antwort, für jede Not eine Hilfe. Es war gut, sich ihm anzuvertrauen. Es war gut, jemand zu haben, der für einen dachte. Es war gut, zu glauben.
Köster stieß mich an. Lenz war nicht da. Er winkte mit dem Kopf nach dem Ausgang. Ich nickte und wir gingen. Die Saalwachen sahen uns finster und argwöhnisch nach. Im Vorraum stand eine Kapelle, fertig zum Einmarsch in den Saal. Ein Wald von Fahnen und Abzeichen dahinter.
„Gut gemacht, was?” fragte Köster draußen.
„Erstklassig. Das kann ich als alter Propaganda-chef beurteilen.”
Wir fuhren ein paar Straßen weiter. Dort war die zweite politische Versammlung. Andere Fahnen, andere Uniformen, ein anderer Saal; aber sonst alles ähnlich. Auf den Gesichtern der gleiche Ausdruck von ungewisser Hoffnung und gläubiger Leere.
„Komm”, sagte Köster nach einer Weile. „Hier ist er auch nicht. Habe ich übrigens auch nicht erwartet.”
Wir fuhren weiter. Die Luft war kalt und frisch nach dem verbrauchten Dunst in den überfüllten Sälen. Der Wagen schoss durch die Straßen. Wir kamen am Kanal vorbei. Die Laternen warfen öliggelbe Reflexe auf das dunkle Wasser, das leise an die betonierten Ufer klatschte.
„Ich denke, wir lassen den Wagen hier stehen und gehen das letzte Stück zu Fuß”, sagte Köster nach einer Weile. „Ist unauffälliger.”
Wir kamen an eine riesige, schmutzige Mietskaserne mit mehreren Hinterhäusern, Höfen und Durchgängen. Im untersten Stock befanden sich Läden, eine Bäckerei und eine Annahmestelle für Lumpen und altes Eisen. Auf der Straße vor dem ersten Durchgang standen zwei Lastwagen mit Schupos.
Im ersten Hof war in einer Ecke aus Holzlatten ein Stand aufgebaut, an dem ein paar große Sternkarten hingen. Vor einem Tisch mit Papieren stand auf einem kleinen Podium ein Mann mit einem Turban. Über seinem Kopf hing ein Schild: Astrologie, Handlesekunst, Zukunftsdeutung, – Ihr Horoskop für 50 Pfennige. Ein Schwarm Menschen umdrängte ihn.
„Otto”, sagte ich zu Köster, der vor mir herging, „jetzt weiß ich, was die Leute wollen. Sie wollen gar keine Politik. Sie wollen Religionsersatz.”
Er sah sich um. „Natürlich. Sie wollen an irgend etwas wieder glauben. An was, ist ganz egal. Deshalb sind sie auch so fanatisch.”
Wir kamen auf den zweiten Hof, an dem das Versammlungslokal lag. Alle Fenster waren erleuchtet. Plötzlich hörten wir Lärm von drinnen. Im selben Moment stürzte aus einem dunklen Seiteneingang eine Anzahl junger Leute in Windjacken wie auf ein verabredetes Zeichen über den Hof, dicht unter den Fenstern entlang, auf die Tür des Lokals los. Der vorderste riss sie auf und sie stürmten hinein.
„Ein Stoßtrupp”, sagte Köster. „Komm hier an die Wand hinter die Bierfässer.”
Ein Brüllen und Toben begann im Saal. In der nächsten Sekunde splitterte ein Fenster und jemand flog heraus. Gleich darauf brach die Tür auf, ein Haufen Menschen wälzte sich heraus, die ersten stürzten, die andern fielen darüber hinweg. Eine Frau schrie gellend um Hilfe und rannte durch den Torbogen hinaus. Ein zweiter Schub folgte mit Stuhlbeinen und Biergläsern, wütend ineinanderverfilzt. Ein riesiger Zimmermann sprang heraus, stellte sich etwas außerhalb auf und jedesmal, wenn er den Kopf eines Gegners vor sich sah, fegte sein langer Arm im Kreise herum und schlug ihn in das Gewühl zurück. Er machte das völlig ruhig, als ob er Holz hackte.