Anfang November verkauften wir den Citroen. Das Geld reichte, um die Werkstatt eine Weile weiterzuführen, aber unsere Lage wurde von Woche zu Woche schlechter. Die Leute stellten im Winter ihre Wagen ein, um Benzin und Steuern zu sparen, und Reparaturen kamen immer weniger vor. Wir halfen uns zwar mit dem Taxi durch, aber der Verdienst war für drei zu knapp und ich war deshalb ganz froh, als der Wirt vom International mir vorschlug, vom Dezember ab wieder jeden Abend bei ihm Klavier zu spielen. Er hatte in der letzten Zeit Glück gehabt; der Viehhändlerverband hatte seine wöchentlichen Vereinsabende in ein Hinterzimmer des International verlegt, dann war der Pferdehändlerverband nachgefolgt und zum Schluß noch die Gesellschaft für Feuerbestattung auf gemeinnütziger Grundlage. Auf diese Weise konnte ich Lenz und Köster das Taxi lassen und mir war es auch sonst ganz recht, – ich wusste ohnehin oft nicht, wie ich die Abende herumbringen sollte.
Pat schrieb mir regelmäßig. Ich wartete auf ihre Briefe, aber ich konnte mir nicht vorstellen, wie sie lebte, und manchmal, in den dunklen, schmutzigen Dezemberwochen, wo es nicht einmal mittags richtig hell wurde, glaubte ich, sie sei mir längst entglitten und alles sei vorbei. Es schien mir endlos, seit sie fort war, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie wiederkommen würde. Dann kamen Abende voll schwerer, wilder Sehnsucht, wo nichts mehr half, als mit den Huren und den Viehhändlern bis morgens zu sitzen und zu trinken.
Der Wirt hatte die Erlaubnis bekommen, das International am Weihnachtsabend offen zu halten. Es sollte eine große Feier für die Junggesellen aller Vereine stattfinden. Der Vorsitzende des Viehhändlerverbandes, der Schweinehändler Stefan Grigoleit, stiftete dazu zwei Spanferkel und eine Anzahl Eisbeine. Er war seit zwei Jahren Witwer und eine weiche Natur; da wollte er Weihnachten in Gesellschaft verbringen.
Der Wirt erstand eine vier Meter hohe Edeltanne, die neben der Theke aufgebaut wurde. Rosa, die Autorität in allem, was traulich und gemütlich hieß, übernahm es, den Baum zu schmücken. Als besondere Aufmerksamkeit für Grigoleit wurde eine Anzahl rosa Marzipanschweinchen hineingehängt.
Ich hatte mich nachmittags zu Bett gelegt, um ein paar Stunden zu schlafen. Als ich aufwachte, war es dunkel. Ich musste mich einen Augenblick besinnen, ob es Abend oder Morgen war. Ich hatte geträumt, aber ich wusste nicht mehr wovon. Ich war weit weggewesen und ich glaubte noch zu hören, dass eine schwarze Tür hinter mir zuschlug. Dann merkte ich, dass jemand klopfte.
Um sieben Uhr meldete ich das Gespräch mit Pat an. Von dieser Zeit an kostete es die halbe Taxe und ich konnte doppelt so lange telefonieren. Eine Viertelstunde später kam das Gespräch. Pat war gleich am Apparat. Als ich ihre warme, dunkle, etwas zögernde Stimme so dicht neben mir hörte, wurde ich so aufgeregt, dass ich kaum sprechen konnte. Es war wie ein Zittern, wie ein Beben des Blutes, gegen das man mit allem Willen nichts machen konnte. „Mein Gott, Pat”, sagte ich, „bist du wirklich da?”
Sie lachte. „Wo bist du denn, Robby? Im Büro?”
„Nein, ich sitze bei Frau Zalewski auf dem Tisch. Wie gehts dir?”
„Gut, Liebling.”
„Bist du auf?”
„Ja. Ich sitze auf der Fensterbank in meinem Zimmer und habe meinen weißen Bademantel an. Draußen schneit es.”
Ich sah sie plötzlich deutlich vor mir. Ich sah die Schneeflocken wirbeln, ich sah den schmalen, dunklen Kopf, die geraden, etwas vorgebeugten Schultern, die bronzefarbene Haut —
„Herrgott, Pat”, sagte ich, „das verfluchte Geld! Ich würde mich sonst auf der Stelle in ein Flugzeug setzen und heute abend noch ankommen.”
„Ach, Liebling – ”
Sie schwieg. Ich horchte in das leise Kratzen und Summen der Leitung. „Bist du noch da, Pat?”
„Ja, Robby. Aber du musst so etwas nicht sagen. Mir ist ganz schwindlig geworden.”
„Mir ist auch verdammt schwindlig”, sagte ich. „Erzähl mir, was du da oben alles machst.”
Sie begann zu sprechen, aber ich hörte bald nicht mehr auf das, was sie sagte. Ich hörte nur ihre Stimme, und während ich so auf dem dunklen Vorplatz hockte, zwischen dem Wildschweinsschädel und der Küche mit den grünen Bohnen, schien es mir, als ginge die Tür auf und eine Welle von Wärme und Glanz käme herein, schmeichelnd und bunt, voll von Träumen, Sehnsucht und Jugend. Ich stemmte die Füße gegen den Tisch, ich stützte den Kopf in die Hand, ich sah den Wildschweinsschädel an und die abgestoßene Küchentür, aber ich konnte mir nicht helfen, – Sommer war auf einmal da, Wind, Abend über Ährenfeldern und das grüne Licht der Waldwege. Die Stimme schwieg. Ich atmete tief.
„Es ist schön mit dir zu sprechen, Pat. Und heute abend, was tust du da?”
„Heute abend ist ein kleines Fest. Um acht beginnt es. Ich ziehe mich gerade dazu an.”
„Was ziehst du denn dazu an? Das silberne Kleid?”
„Ja, Robby. Das silberne Kleid, in dem du mich durch den Korridor getragen hast.”
„Und mit wem gehst du?”
„Mit niemand. Es ist doch hier im Sanatorium. Unten in der Halle. Da kennen sich alle.”