Mir war es lieb zu hören, dass ihre klaren, guten Augen mich betrachtet hatten, ohne dass ich es wusste. Und ich dachte schon an diesem ersten Abend unserer Bekanntschafft, es müsste gut und selig sein, ein ganzes Leben unter dem Blick dieser schönen und aufrichtigen Augen hinzubringen, und es müsste dann unmöglich sein, jemals Schlechtes zu tun oder zu denken. Und von jenem Abend an wusste ich, dass irgendwo mein Verlangen nach Einheit und zartester Harmonie Stillung zu finden[58]
wäre und dass jemand auf der Erde lebe, auf dessen Blick und Stimme jeder Puls und jeder Atemzug in mir rein und innig Antwort gab.Auch sie spürte unverweilt in mir den freundschafftlich reinen Widerklang ihres Wesens und hatte von der ersten Stunde an das ruhige Verlangen, sie mir zu eröffnen und unverstellt zeigen zu können, und weder Missverständnis noch Vertrauensbruch fürchten zu müssen. Sie war mir sogleich nah befreundet, wie es in solcher Schnelle und Selbstverständlichkeit nur jungen und wenig verdorbenen Menschen möglich ist. Bis dahin war ich zwar schon je und je verliebt gewesen, doch stets – und namentlich seit meiner Entstellung – mit einem scheuen, begehrlichen und unsicheren Gefühl. Nun war statt der Verliebtheit die Liebe gekommen, und mir schien, es sei ein feiner, grauer Schleier von meinen Augen gefallen, und die Welt liege für mich im ursprünglich göttlichen Lichte da, wie sie vor Kindern und wie sie vor den Augen unsrer Paradiesträume liegt.
Gertrud war damals kaum über zwanzig Jahre alt, schlank und gesund wie ein junger Baum, und war aus dem Kram und Schwindel des üblichen Jungmädchentums unberührt hervorgegangen, ihrem eigenen noblen Wesen folgend wie eine sicher schreitende Melodie. Mir war im Herzen wohl, dass ich ein solches Geschöpf in der unvollkommenen Welt lebendig wusste, und ich konnte nicht daran denken, sie etwa einzufangen und für mich allein wegzunehmen. Ich war froh, an ihrer schönen Jugend ein wenig teilhaben zu dürfen und mich von Anfang an unter ihren guten Freunden zu wissen.
In den Nacht nach diesem Abend schlief ich lange nicht ein. Es plagte mich aber kein Fieber und keine Unruhe, sondern ich wachte und suchte den Schlaf nicht, weil ich in meinen Frühling gekommen und mein Herz nach langen, sehnlichen Irrfahrten und Winterzeiten auf dem rechten Wege wusste. In meine Stube floss blasser Nachtschimmer; alle Ziele des Lebens und der Kunst lagen klar und nahe wie föhn-helle Höhen, ich spürte den oft so ganz verlorenen Klang und geheimen Takt meines Lebens lückenlos bis in die sagenhaften Kinderjahre zurück. Und wenn ich diese traumhafte Klarheit und gedrängte Fülle des Gefühls halten und verdichten und mit Namen nennen wollte, so nannte ich den Namen Gertrud. Mit ihm schlief ich ein, schon gegen den Morgen und stand beim Tagen frisch und erquickt wieder auf, wie nach einem langen, langen Schlaf.
Da fielen die missmutigen Gedanken der letzten Zeit, und auch die hochmütigen, mir wieder ein, und ich sah, woran es mir gefehlt hatte. Heute quälte und verstimmte und ärgerte mich nichts mehr, ich hatte wieder die große Harmonie im Ohr und träumte wieder meinen Jugendtraum vom Zusammenklang der Sphären. Ich tat wieder meine Schritte und Gedanken und Atemzüge nach einer geheimen Melodie, das Leben hatte wieder einen Sinn, und die Ferne war morgengolden. Niemand bemerkte die Veränderung, es stand mir keiner nah genug. Nur Teiser, das Kind, stieß mich bei der Probe im Theater lustig an und sagte: »Sie haben gut geschlafen heut Nacht, gelt?« Ich besann mich, womit ich ihn erfreuen könnte, und fragte in der nächsten Pause: »Teiser, wo gehen Sie diesen Sommer hin?« Da lachte er verschämt und wurde rot wie eine Braut, die man nach dem Hochzeitstag fragt, und meinte: »Lieber Gott, bis dahin ist’s noch lang! Aber schauen Sie, da drin hab ich schon die Karten.« Er schlug auf seine Brusttasche. »Diesmal geht’s vom Bodensee aus: Rheintal, Fürstentum Lichtenstein, Chur, Albula, Oberengadin, Maloja, Bergell, Comersee.[59]
Den Rückweg weiß ich noch nicht.«Er hob die Geige wieder und blickte mich noch schnell mit List und Wonne aus seinen graublauen Kinderaugen an, die nie etwas vom Schmutz und vom Leid der Welt gesehen zu haben schienen. Und ich fühlte mich ihm verbrüdert, und wie er sich auf seine große, wochenlange Fußwanderung freute, auf die Freiheit und den sorglosen Umgang mit Sonne, Luft und Erde, so freute ich mich von neuem auf alle Wege meines Lebens, die wie in einer jungen nagelneuen Sonne vor mir lagen, und die ich aufrecht mit hellen Augen und reinem Herzen zu gehen gesonnen war.