Heute, wenn ich dahin zurückdenke, liegt alles schon ferngeworden und weit auf der Morgenseite, aber etwas vom damaligen Licht ist noch jetzt auf meinen Wegen, wennschon es nimmer so jung und lachend glänzt, und heute wie damals ist es mein Trost und tut es mir in bedrückten Stunden wohl und nimmt den Staub von meiner Seele, wenn ich mir den Namen Gertrud vorsage und an sie denke, wie sie damals mir im Musiksaal ihres Alten entgegenkam, leicht wie ein Vogel und zutraulich wie ein Freund.
Nun ging ich auch wieder zu Muoth, den ich seit jener peinlichen Beichte der schönen Lotte möglichst vermieden hatte. Er hatte es bemerkt und war, wie ich wusste, zu stolz und auch zu gleichgültig, sich um mich zu bemühen. So waren wir seit Monaten nicht mehr allein beisammen gewesen. Jetzt, da ich voll neuen Vertrauens zum Leben und voll guter Absichten war, schien es mir vor allem notwendig, mich dem vernachlässigten Freund wieder zu nähern. Den Anlass dazu gab mir ein neues Lied, das ich gesetzt hatte; ich beschloss, es ihm zu widmen. Es war dem Lawinenlied ähnlich, das er gern hatte, und der Text hieß:
Ich machte eine saubere Abschrift und schrieb darüber: »Meinem Freunde Heinrich Muoth gewidmet.«
Damit ging ich zu ihm, zu einer Zeit, wo ich ihn sicher zu Hause wusste. Richtig klang mir sein Singen entgegen, er schritt in den stattlichen Zimmern seiner Wohnung auf und ab und übte. Er empfing mich gelassen.
»Schau her, der Herr Kuhn! Ich dachte schon, Sie kämen gar nimmer.«
»Doch«, sagte ich, »da bin ich. Wie geht’s?«
»Immer gleich. Nett, dass Sie sich wieder einmal zu mir wagen.«
»Ja, ich war in der letzten Zeit untreu…«
»Sogar sehr deutlich. Ich weiß auch warum.«
»Das glaube ich kaum.«
»Ich weiß es. Die Lotte ist einmal bei Ihnen gewesen, nicht?«
»Ja, ich wollte nicht davon reden.«
»Ist auch nicht nötig. Also da sind Sie wieder.«
»Und ich habe etwas mitgebracht.«
Ich gab ihm die Noten.
»Oh, ein neues Lied! Das ist recht, ich hatte schon Angst für Sie, Sie möchten in der langweiligen Streichmusik steckenbleiben. Und da steht ja eine Widmung! Für mich? Ist das Ihr Ernst?«
Ich wunderte mich, dass es ihn so zu freuen schien, ich hatte eher einen Scherz über die Dedikation erwartet.
»Gewiss freut mich das«, sagte er aufrichtig. »Es freut mich immer, wenn anständige Menschen mich gelten lassen, und bei Ihnen besonders. Ich hatte Sie im stillen schon auf die Totenliste gesetzt.«
»Führen Sie solche Listen?«
»O ja, wenn man so viele Freunde hat, oder gehabt hat, wie ich … Es gäbe einen schönen Katalog. Die moralischen habe ich immer am höchsten geschätzt, und gerade diese kneifen mir alle aus. Unter Lumpen findet man jeden Tag Freunde, aber unter Idealisten und Normalbürgern hält es schwer, wenn man anrüchig ist. Sie sind zur Zeit beinah der einzige. Und wie es geht – was man am schwersten haben kann, hat man am liebsten. Geht es Ihnen nicht auch so? Mir ist immer nur an Freunden gelegen, statt dessen laufen mir bloß Weiber zu.«
»Daran sind Sie zum Teil selber schuld, Herr Muoth.«
»Warum denn?«
»Sie behandeln alle Leute gern so, wie Sie die Weiber behandeln. Bei Freunden geht das nicht, darum laufen sie Ihnen draus. Sie sind ein Egoist.«
»Gott sei Dank bin ich das. Übrigens Sie nicht minder. Als die furchtbare Lotte Ihnen ihr Leid klagte, da haben Sie ihr keineswegs geholfen. Sie haben auch nicht den Anlass benützt, mich zu bekehren, wofür ich Ihnen dankbar bin. Sie haben vor der Affäre ein Grausen gespürt und sind weggeblieben.«
»Nun, da bin ich wieder. Sie haben recht, ich hätte mich der Lotte annehmen sollen. Aber ich verstehe mich auf diese Sache nicht. Sie hat mich selber ausgelacht und mir gesagt, von der Liebe verstünde ich gar nichts.«
»Nun, dann halten Sie sich brav an die Freundschafft! Es ist auch ein schönes Feld. Und jetzt sitzen Sie hier und spielen Sie die Begleitung, wir wollen das Lied einmal studieren. Ach, wissen Sie noch, Ihr erstes damals? Sie sind ja allmählich ein berühmter Herr, scheint mir.«
»Es geht an, neben Ihnen jedenfalls komme ich nie auf.«