Wie lange sich dieser Zustand würde erhalten lassen, war freilich zweifelhaft und hing ganz von Muoth ab, dessen Unberechenbarkeit ich hier zum erstenmal von einer Frau gebändigt sah. Mir taten beide leid, doch war ich nicht sehr verwundert, die Dinge so zu finden. Die beiden hatten ihre Leidenschafft gehabt und genossen, nun mochten sie entweder Entsagung lernen und die gute Zeit in wehmütiger Erinnerung tragen oder den Weg zu einem neuen Glück und einer neuen Liebe finden. Vielleicht würde ein Kind sie wieder zusammenführen, nicht mehr in den verlassenen Paradiesgarten der Liebesglut zurück, wohl aber zu einem neuen, guten Willen, gemeinsam zu leben und sich ineinander zu schicken. Dazu hatte Gertrud die Kraft und die innere Heiterkeit, das wusste ich. Ob auch Heinrich sie finden würde, darüber mochte ich mir keine Gedanken machen. So leid sie mir taten, dass der große, schöne Sturm ihrer ersten Glut und Freude aneinander schon vorüber war, so freute mich doch die gute Haltung beider, die immer noch nicht nur vor den Leuten, sondern auch voreinander ihre Schönheit und Würde bewahrt hatten.
Die Einladung, in Muoths Hause zu wohnen, mochte ich indessen nicht annehmen, und er ließ mir meinen Willen. Ich war täglich dort, und es tat mir wohl zu sehen, dass Gertrud mich gerne kommen sah und sich am Plaudern und Musizieren mit mir freute, so dass ich nicht allein der Nehmende war.
Die Aufführung der Oper sollte nun bestimmt im Dezember stattfinden. Ich blieb zwei Wochen da, nahm an allen Orchesterproben teil, musste da und dort[88]
streichen und anpassen, sah aber das Werk in guten Händen. Es war mir wunderlich, die Sänger und Sängerinnen, die Geiger und Flötisten, Kapellmeister und Chor mit meiner Arbeit beschäftigt zu sehen, die mir selber fremd geworden war und ein Leben atmete, das nicht mehr meines war.»Warte nur«, sagte Heinrich zuweilen, »jetzt bekommst du bald die verfluchte Luft der Öffentlichkeit[89]
zu atmen. Fast möchte ich dir wünschen, es möchte keinen Erfolg geben. Denn dann hast du die Meute hinter dir, du wirst dann bald mit Locken und Autographen handeln können und sehen, wie geschmackvoll und liebenswürdig die Anbetung der Herde ist. Von deinem lahmen Bein spricht schon jetzt jedermann. So etwas macht populär!«Nach den notwendigsten Proben und Versuchen reiste ich wieder ab, um erst einige Tage vor der Auff ührung wiederzukommen. Teiser fand kein Ende mit Fragen über die Aufführung, er dachte an hundert Einzelheiten im Orchester, die ich kaum beachtet hatte, und sah der Sache mit größerer Aufregung und Unruhe entgegen als ich selber. Als ich ihn einlud, samt seiner Schwester der Aufführung beizuwohnen, tat er einen Freudensprung. Dagegen wollte meine Mutter die Winterreise und die Aufregung nicht teilen, und mir war es nicht unlieb. Allmählich spürte ich die Spannung doch und brauchte abends ein Glas Rotwein, um einschlafen zu können.
Es wurde früh Winter, und unser Häuschen lag tief eingeschneit in seinem Garten, als eines Morgens die Geschwister Teiser mich im Wagen abholten. Die Mutter winkte vom Fenster nach, der Wagen fuhr ab, und Teiser sang aus seinem dicken Halstuch heraus ein Reiselied. Auf der ganzen langen Eisenbahnfahrt war er wie ein Knabe, der in die Weihnachtsferien fährt, und die hübsche Brigitte glühte in stillerem Vergnügen mit. Ich war froh, ihre Gesellschafft zu haben, denn meine Ruhe war nun dahin, und ich ging den Ereignissen der nächsten Tage wie ein Verurteilter entgegen.
Das merkte auch Muoth sofort, der uns am Bahnhof erwartete. »Du hast Lampenfieber[90]
, Junge«, lachte er vergnügt. »Gott sei Dank dafür! Du bist eben doch ein Musiker und kein Philosoph.«Damit schien er recht zu haben, denn meine Erregung hielt bis zur Aufführung an, und ich habe in jenen Nächten nicht geschlafen. Von uns allen war nur Muoth ruhig. Teiser brannte vor Unruhe, er kam zu jeder Probe und fand kein Ende mit Kritisieren. Geduckt und lauernd saß er in den Proben neben mir, schlug an heiklen Stellen den Takt laut mit der Faust, lobte und schüttelte den Kopf.
»Da fehlt ja eine Flöte!« rief er gleich bei der ersten Orchesterprobe so laut, dass der Dirigent unwillig herüberschaute.
»Die haben wir streichen müssen«, sagte ich lächelnd.
»Die Flöte? Gestrichen? Ja, warum denn? So eine Viecherei! Pass auf, die verdudeln dir deine ganze Ouvertüre!«
Ich musste lachen und ihn mit Gewalt zurückhalten, so wild ging er ins Zeug[91]
. Aber bei seiner Liebling ss telle in der Ouvertüre, wo Bratschen und Celli einsetzen, lehnte er mit geschlossenen Augen zurück, drückte meine Hand krampfhaft und flüsterte nachher beschämt: »Ja, das hat mir nasse Augen gemacht. Sakrisch fein ist’s.«